Sinkflug und Absturz

„Junge Welt“, 17.01.2008
Kapitalabfluß, zurückgehende Nachfrage, private Verschuldung, Immobilienblasen: Polen und Osteuropa am Vorabend der Weltfinanzkrise

Die wichtigsten Börsen Osteuropas geraten ins Rutschen. Man könne schon von einer Panik sprechen, kommentierte die polnische Tageszeitung Rzeczpospolita den Verlauf des vorgestrigen Handelstages an der Warschauer Börse. Es seien Milliarden von Zloty im Verlauf des Dienstags auf dem Parkett »verdampft«, so daß bei Handelsschluß der polnische Leitindex WIG20 um 4,33 Prozent einbrach. Auch andere Leitindizes gerieten in den Abwärtsstrudel. In Prag verlor der PX-Index binnen zweier Tage vier Prozent, in Budapest gab der BUX um 2,5 Prozent nach. Mit den jüngsten Einbrüchen beschleunigt sich der Abwärtstrend an den osteuropäischen Wertpapierbörsen, der dem WIG20 in Warschau bereits ein Minus von 11,9 Prozent seit Jahresanfang bescherte.

Es waren die sich mehrenden Krisensignale von der westlichen Seite des Atlantik, die für den Einbruch der Ak­tienmärkte an der osteuropäischen Peripherie des Weltfinanzsystems sorgten. Die Feststellung Alan Greenspans vom Wochenbeginn, daß die US-Wirtschaft sich bereits in der Rezession befinde, der massive Quartalsverlust der Citigroup von 9,8 Milliarden US-Dollar sowie die Nachricht von den um 0,4 Prozent fallenden Einzelhandelsumsätzen in den USA trugen wesentlich zu der Panik bei. Laut Rzeczpospolita treten angesichts der Finanzkrise die westlichen »Investoren den Rückzug aus den Schwellenmärkten an«, das westliche Finanzkapital gebe fluchtartig seine Portfolioinvestitionen in Osteuropa auf.

Die osteuropäischen Volkswirtschaften, eigener ökonomischer Kapazitäten während der desaströsen Privatisierungen Anfang der 90er Jahre größtenteils beraubt, müssen sich wohl generell auf ein Versiegen des Investitionszuflusses aus den westlichen Zentren einstellen. Dem »Foreign Direct Investment Index 2007« des globalen Beratungsunternehmens A.T. Kearney zufolge fallen nahezu alle osteuropäischen Länder in der Gunst der Investoren. Laut Kearney-Umfrage sank die »Attraktivität« der Standorte Polen und Tschechien im vergangenen Jahr merklich: So rutschte die Tschechische Republik von Rang zwölf auf Rang 25 unter den beliebtesten Standorten, Polen fiel sogar von Platz fünf auf 22. Erste handfeste Zahlen bestätigen diesen Trend. Nach Angaben der Europäischen Wiederaufbaubank EBRD waren 2007 die ausländischen Direktinvestitionen (FDI) in Osteuropa bereits leicht rückläufig, da die »Privatisierungen weitgehend abgeschlossen« seien, wie die österreichische Presse bemerkte.

Die Weltfinanzkrise wird laut Düsseldorfer Handelsblatt auch das stürmische Wirtschaftswachstum Osteuropas deutlich abschwächen. Denn die »sinkende Nachfrage aus Westeuropa und den USA« werde sich für die arbeitsintensiven »verlängerten Werkbänke«, die zahlreiche Westkonzerne im Osten eingerichtet haben, besonders stark bemerkbar macht. Neben der sinkenden Nachfrage im Westen machten vom Handelsblatt befragte Vorstände osteuropäischer Banken die Verringerung der Aktienquote bei US-Investoren für die kommende konjunkturelle Eintrübung im Osten verantwortlich. Im Schnitt an die zwei Prozent weniger als im vergangenem Jahr sollen demzufolge die osteuropäischen Volkswirtschaften wachsen.

Ein zweites konjunkturelles Standbein war bisher – insbesondere in Polen – die überraschend starke Binnennachfrage. Die jedoch wurde in starkem Maße über Kredite und private Geldüberweisungen aus dem Ausland befeuert. Rapide ist inzwischen die Verschuldung der polnischen Konsumenten angestiegen. Im Oktober 2007 standen diese bereits mit 106 Milliarden Zloty (28 Milliarden Euro) in der Kreide – 30 Milliarden Zloty mehr als noch zu Jahresbeginn. Insgesamt wuchs die Kreditvergabe in Polen 2007 um ca. 32 Prozent gegenüber dem Vorjahr. In Tschechien waren es 26 Prozent, in Ungarn zwölf und in Rumänien sogar 50 Prozent. In allen genannten Ländern – mit Ausnahme Ungarns – wuchsen die neuen Spareinlagen nicht einmal halb so schnell wie die Kreditaufnahme. Bereits jetzt ziehen angesichts weiterhin hoher Inflation (voraussichtlich vier Prozent im Januar in Polen) und der zunehmenden Krisenerscheinungen die Zinsen in Osteuropa an, so daß eine ausgewachsenen Schuldenkrise mitsamt konjunkturellem Einbruch wahrscheinlich wird.

Ein großer Teil dieser Verschuldung ist auf den Immobiliensektor zurückzuführen, dessen Boom ebenfalls zum bisherigen Wirtschaftsaufschwung beitrug. Die größtenteils von Investmentfirmen finanzierten Projekte im Wohnungsbau erwiesen sich in den vergangenen Jahren als besonders lukrativ, verdoppelten sich doch seit dem EU-Beitritt Polens die Preise für Wohneigentum. Inzwischen müssen sich Polens Bürger bei der größten Hypothekenbank des Landes, der PKO BP, durchschnittlich mit 300 000 Zloty (85 000 Euro) verschulden, wollen sie ein Dach über dem Kopf haben – 2002 betrug die Höhe der durchschnittlichen Hypothek gerade mal 70000 Zloty. Jetzt allerdings sind die Preise auf dem polnischen Immobilienmarkt zum Stillstand gekommen, die satten Profite gehören zur Vergangenheit. Eine ähnliche Entwicklung machen derzeit die EU-Neumitglieder Rumänien und Bulgarien durch. Vor allem rund um Sofia explodieren die Immobilienpreise regelrecht, wo inzwischen bis zu 1500 Euro pro Quadratmeter verlangt werden. Im Landesdurchschnitt stiegen die Preise für Wohneigentum in Bulgarien im dritten Quartal 2007 um 30 Prozent gegenüber dem Vorjahr – dies sei der weltweit höchste Preisanstieg in diesem Zeitraum, meldete die Nachrichtenagentur Interia.

Bei einem heftigen Absinken des Preisniveaus könnten diejenigen Hypothekennehmer Probleme bekommen, die ihre verschuldeten Immobilien angesichts steigender Zinsen veräußert wollen. Ähnlich wie in den USA würde der Verkaufspreis die Kosten der verbliebenen Hypothek nicht mehr decken. Als Konjunkturmotor hat sich die Baubranche inzwischen verabschiedet. Die Märkte reagieren dementsprechend: Der WIG20 setzte seinen freien Fall auch am Mittwoch fort und verlor in den ersten Handelsstunden wiederum 3,5 Prozent.

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