Outsourcing der Barbarei

Telepolis, 20.09.2016
Wie die überflüssige Menschheit, die der Kapitalismus produziert, zum Verschwinden gebracht werden soll

Flüchtlinge sind so was von uncool. Die flüchtige „Willkommenskultur“ ist jüngsten internationalen Umfragen zufolge einer rasch anschwellenden Ablehnungsfront gewichten (Ablehnung von Flüchtlingen wächst weltweit). Demnach sind rund 49 Prozent der Bundesbürger der Ansicht, dass es inzwischen zu viele Flüchtlinge in Deutschland gibt. Rund 40 Prozent der Befragten wollen die Grenzen schließen, während nur noch 20 Prozent in der Migration auch positive Aspekte ausmachen können.

Dieser rasch um sich greifende Stimmungswandel, der auch auf globaler Ebene vonstatten geht, kann auf eine einfache Ursache zurückgeführt werden: Die globalen Flüchtlingsbewegungen nehmen weiter zu. Laut UNHCR befanden sich 2015 weltweit rund 65,3 Millionen Menschen auf der Flucht, was abermals einen neuen Rekordwert darstellte.

Im Vorjahr waren es 59,5 Millionen. Eine von 113 Personen musste aufgrund von Konflikten oder Verfolgung im vergangenen Jahr fliehen. Nahezu ein Prozent der Menschheit befindet sich inzwischen auf der Flucht.

Ein Ende dieser dramatischen Entwicklung ist nicht in Sicht, da die zunehmende Instabilität des kapitalistischen Weltsystems sich in immer neuen ökonomischen wie militärischen Krisen- und Konfliktherden manifestiert, die entsprechende Fluchtbewegungen zur Folge haben. Das Mittelmeer wird auch in diesem Jahr ein Massengrab für verzweifelte Flüchtlinge sein, wobei abermals Negativrekorde zu befürchten sind, wie das UNHCR meldete. Die bisherige Todesrate deute darauf hin, dass 2016 zum bislang tödlichsten Jahr für Flüchtlinge werde, die das Mittelmeer überwinden müssen. Im Schnitt starben in den vergangen 12 Monaten 11 Menschen beim Fluchtversuch – täglich.

Die Migrationsdebatte und irrationaler Abschottungswahn

Die bürgerlich-liberale „Willkommenskultur“ in Deutschland, die letztendlich auf eine ökonomische Verwertung arbeitsfähiger Flüchtlinge abzielte, zerbricht somit an der eskalierenden Krisendynamik. Ohne die öffentliche Reflexion der Flüchtlingskrise als einen Moment der (öffentlich tabuisierten) kapitalistischen Systemkrise (Die Krise kurz erklärt), ohne einen breiten öffentlichen Diskurs über Systemalternativen zur kapitalistischen Dauerkrise gewinnen somit dumpfe Abschottungstendenzen überhand.

Die ökonomisch überflüssigen Menschen, die das Kapital in seiner letalen Krise zunehmend produziert, sollen somit zum Verschwinden gebracht werden. Man will sie in den erodierenden Zentren nicht sehen müssen, da sie die noch nicht abgestürzten Bevölkerungsschichten an die eigene prekäre Lage erinnern. Das Thema Flüchtlinge wurde durch die Massenmedien im Rahmen der kulturindustriellen Konjunkturzyklen oberflächlich breitgetreten, sodass sich die Aufmerksamkeitsspanne des liberalen Bürgertums längst erschöpfte. Die Migrationsdebatte wird der liberalen Mittelklasse schlicht langweilig.

Zugleich gewinnt die extreme Rechte mit ihrem irrationalen Abschottungswahn Oberhand, wie die Wahlergebnisse in Mecklenburg-Vorpommern belegen. Hier gehen Xenophobie und Abstiegsängste Hand in Hand. Die Abschottung der Grenzen soll auch die Krise „draußen“ halten, während die Flüchtlinge vor allem als Konkurrenten wahrgenommen werden. Die offene Faschisierung insbesondere des „nahen Ostens“ der Bundesrepublik, die im Gefolge der erfolgreichen rechtsextremen Flüchtlingshetze einsetzt, wurde zuletzt anhand der pogromartigen Ausschreitungen in Bautzen evident (Nationalbefreite Zone Bautzener Kornmarkt).

Während jugendliche Flüchtlinge unter Quarantäne gestellt wurden, stiegen mordlüsterne Rechtsextremisten zu respektablen Gesprächspartnern der Lokalpolitik auf.

Diese öffentliche Gemengelage aus zunehmendem Desinteresse und offenen, zur Vernichtungstat drängendem Hass, die mit der Eskalation der Flüchtlingskrise sich noch verfestigen dürfte, treibt die Tendenzen zur verstärkten Exklusion an, zum „Verschwindenlassen“ der ökonomisch überflüssigen Menschenmassen, die der anomischen Hölle der offenen Zusammenbruchsgebiete der Peripherie zu entfliehen versuchen.

Dabei will man sich in den Zentren selbstverständlich nicht selbst die Finger schmutzig machen, um das demokratische Selbstbild (selbst Deutschlands Rechtspopulisten und Extremisten agieren ja in der Maske des Demokraten) nicht allzu sehr zu beflecken. Deutschlands Nazis sollen zum Verschwinden gebracht werden, indem die Politik ihre Forderungen erfüllt.

Deswegen ist ja beispielsweise eine Angela Merkel zu einem Dauergast bei dem türkischen Islamofaschisten Erdogan geworden, der ihr dieses „Problem“ abnehmen soll. Diese barbarische Schmutzarbeit, bei der die verzweifelten, in die Metropolen strömenden Menschenmassen beseitigt werden sollen, wird in die Peripherie ausgelagert. Wozu gibt es schließlich das in der Globalisierung eingeübte Outsourcing?

Konzentration von Flüchtlingen in Lagern

In der EU übernimmt Hellas diese Aufgabe. Das krisengeplagte Griechenland ist das periphere Land der EU, dass zu der europäischen Flüchtlingsammelstelle zugerichtet wurde, die laut Planungen zu einem regelrechten Verschiebebahnhof der anschwellenden Flüchtlingsströme ausgebaut werden soll.

Zum einen liegt Hellas auf der Fluchtroute aus dem kollabierenden Nahen- und Mittleren Osten, und zum anderen konnte das Land aufgrund seiner prekären sozioökonomischen Lage relativ einfach von Berlin und Brüssel dazu genötigt werden, die Hauptlast der Fluchtbewegung zu tragen. Nachdem die „Balkanroute“ geschlossen wurde, sammelten sich die Flüchtlingsmassen ohnehin automatisch in Hellas.

Anfang 2016 wurden in Griechenland fünf Lager errichtet, in denen Flüchtlinge konzentriert werden. Selbstverständlich heißen diese Lager nicht Lager, sondern „Hotspots“ oder Registrierungszentren da die Public-Relations-Abteilungen der Brüssler Bürokratie keine historischen Erinnerungen aufkommen lassen wollten. Und dennoch bleibt das Grundprinzip der Menschenverwahrung dasselbe: Die Menschen werden an einem bewachten Ort konzentriert, um sie unter Kontrolle halten zu können.

Inzwischen sind die „Hot Spots“ auf den griechischen Inseln gnadenlos überfüllt. Ausgelegt für rund 7.500 Menschen, befanden sich dort Anfang August mehr als 10 000 Flüchtlinge.

Die Überbelegung ist folge der chronischen Finanzmittelknappheit und der anhaltenden Fluchtdynamik – wie auch einer bewussten Politik, die mit unwürdigen Lebensbedingungen in den Lagern abschrecken will. Der Aufenthalt in den „Hot Spots“ soll für die Flüchtlinge die Hölle sein, damit es sich „herumspricht“ und künftige Fluchtversuche unterbleiben.

Die NGO Human Rights Watch (HRW) stellte im vergangenen Juni den europäischen Flüchtlingslagern in Hellas ein vernichtendes Zeugnis aus. In den überfüllten Lagern herrschten Willkür und Rechtlosigkeit, unter denen vor allem Frauen und Kinder zu leiden hätten, so HRW:

Durch den mangelhaften Polizeischutz, die Überfüllung und die miserablen Hygienezustände entsteht in den Lagern, die mit Stacheldraht umzäunt sind, eine von Chaos und Unsicherheit geprägte Atmosphäre.

Die Polizeikräfte würden sich bei gewalttätigen Auseinandersetzungen schlicht zurückziehen, während Hilfsersuchen von sexuell belästigten Frauen ignoriert würden:

In allen drei Hotspots berichten Frauen über regelmäßige sexuelle Belästigungen: „Die Männer betrinken sich jeden Abend und versuchen, in unser Zelt zu kommen“, so eine alleinstehende 19-jährige Eritreerin, die in Vathi lebt. „Wir gingen zur Polizei und baten, dass man uns in einen anderen Teil des Lagers bringt, getrennt von den Männern, die versuchen, uns zu missbrauchen. Doch die Polizei weigerte sich, uns zu helfen. Genau aus diesem Grund sind wir aus unserem Land geflohen. Doch hier im Lager, haben wir Angst, unser Zelt zu verlassen.“ Frauen im Lager Moria auf Lesbos und in VIAL auf Chios schilderten ähnliche Probleme und waren tief besorgt um die Sicherheit ihrer Kinder.

Human Rights Watch

Es gebe keine klaren Strukturen und Verantwortlichkeiten bei der Organisation des europäischen Lagerregimes in Griechenland, warnte HRW. Mitunter gebe es keine Lagerleitung. Die hinter Stacheldraht in überfüllten Lagern konzentrierten Menschen würden weitgehend sich selbst überlassen – was wiederum zur Ausbildung entsprechen archaischer, brutaler Machtstrukturen in den Lagern führt.

Während Griechenland zu einem Verschiebebahnhof zur Regulierung der Fluchtbewegungen ausgebaut wird, soll die Türkei als der „Türsteher Europas“ fungieren. Das autoritär-islamistische Regime um Staatschef Erdogan hat mit dem großen Mauerbau entlang der Grenze zu Syrien begonnen, während sich zugleich die Vorfälle über Erschießungen und Misshandlungen von Flüchtlingen durch türkische Sicherheitskräfte mehren.

In den Lagern der Türkei – man will es hierzulande gar nicht so genau wissen – herrschen noch schlimmere Zustände als in Griechenland. In einem von Bundeskanzlerin Merkel besuchten Vorzeigelager in Gaziantep wurden 30 Kinder im Alter von 8 bis 12 Jahren monatelang sexuell missbraucht.

Das globale Lagerregime

Das im Entstehen begriffene, globale Lagerregime muss als ein Prozess begriffen werden, bei dem zunehmende Krisenintensität mit Enthemmung und Barbarisierung einhergehen. Wohin das globale Lagerregime tendiert, machen die Vorfälle auf der anderen Seite der kapitalistischen „One World“ offenbar.

Australien errichtete auf den Pazifikinseln Nauru und Manus Island ein drakonisches Lagersystem, das im Endeffekt auf die psychische Vernichtung der dort konzentrierten Menschen abzielt. Die Flüchtlinge sollen ein Schicksal erfahren, dass schlimmer ist als der Tod, um künftig Fluchtideen aus oftmals lebensbedrohlichen Zuständen Richtung Australien erst gar nicht aufkommen zu lassen.

Das australische Lagerregime produziere „tote Seele in lebenden Körpern“, alarmierte HRW in Anspielung an Aussagen von Lagerinsassen. Die Menschen würden dort jahrelang in Unsicherheit, Isolation und Tatenlosigkeit festgehalten, während Misshandlungen, sexuelle Übergriffe und medizinische Vernachlässigung seitens des Wachpersonals weitverbreitet seien.

Die Unfähigkeit der australischen Regierung, diese Praxis „schwerwiegender Misshandlungen“ zu beenden, deutete darauf hin, dass es sich um eine „absichtlich verfolgte Politik“ handelt, mit der Asylsuchende abgeschreckt werden sollen.

Ein Traumaexperte, der auf den berüchtigten Pazifikinseln eigentlich die geistige Gesundheit der Wachmannschaften gewährleisten sollte, berichtete gegenüber The Guardian darüber, was die Mischung aus „weißer“ Isolationsfolter und offenem Missbrauch mit den Flüchtlingen macht.

Die Gräueltaten seien das Schlimmste gewesen, was ihm in seiner 43-jährigen Karriere begegnet sei – jeder in Ödnis, Unsicherheit und Tatenlosigkeit verbrachte Tag sei eine Demoralisierung, so Paul Stevenson.

Während seiner Dienstzeit hätten sechs Kinder, die dort ohne Eltern festgehalten wurden, gemeinsam einen Selbstmordversuch unternommen. Eine Frau habe in fünf Wochen sieben Selbstmordversuche unternommen und damit gedroht, ihre Tochter umzubringen. Sie musste schließlich fixiert werden, nachdem sie nicht aufhören wollte, mit ihrem Kopf gegen den Boden zu schlagen. Eine Mutter berichtete von sexuellem Missbrauch ihres 3-jährigen Kindes durch Wachmahnschaften, den anzuzeigen sie sich lange Zeit fürchtete.

Erst nach ihrer Ankunft in Australien sprach sie offen darüber. Eine Ehefrau, die getrennt von Ihrem Mann auf Nauru festgehalten war, hat sich dessen Namen mit einer Rasierklinge auf die Brust geritzt. Ein Asylbewerber hat sich den Bauch selbst aufgeschlitzt, nachdem ihm verwehrt wurde, mit einem Verwandten zu sprechen, der gerade dabei war, vom Dach einer Baracke zu springen.

Das, was Australien auf den „Niemandsland“ im Pazifik errichtete, kann getrost als Prototyp des Konzentrationslagers des 21. Jahrhunderts bezeichnet werden, wo die psychische Vernichtung der internierten Menschen mit den „wissenschaftlichen“ Erkenntnissen der Isolationsfolter betrieben wird. Im Fernen Pazifik findet sich somit der feuchte Wunschtraum der Bautzener Neonazis und ihrer bürgerlichen Naziversteher in Politik, Staat und Medien bereits realisiert.

Die Analogiebildung zu den Konzentrationslagern der Nazis ist auch deswegen legitim, weil auch der nationalsozialistische KZ-Staat sich im Verlauf eines historischen Prozesses zu einem Massenmordinstrumentarium entwickelte – die ersten KZs der 30er Jahre waren ebenfalls nicht als Vernichtungslager konzipiert. Die einsetzende Barbarisierung des Lagerregimes muss auch im 21. Jahrhundert als ein Prozess begriffen werden.

Zonen der Exklusion

So ein Konzentrationslager im Nirgendwo hat – aller abschreckenden Wirkung zum Trotz – aber auch handfeste Nachteile. Der betreffende Staat ist dafür zuständig, er kann folglich in Skandale verwickelt und für Missbrauch, zumindest theoretisch, auch zur Verantwortung gezogen werden.

Solange es eine noch einigermaßen intakte, nicht gänzlich verwilderte Öffentlichkeit gibt, sorgen Lager schlicht für eine schlechte Presse. Besser ist es folglich, das Outsourcing der Barbarei noch weiter zu treiben – und auch die Verantwortung für die Überflüssigen an abhängige Regimes oder Rackets zu delegieren.

Hierbei, bei dem Aufbau abhängiger peripherer Zonen der Exklusion, leistet die Türkei regelrechte Pionierarbeit. Die Financial Times berichtete Anfang September über die strategischen Planungen, die den militärischen Abenteuern der Türkei in Nordsyrien zugrunde liegen.

Demnach planen die Staatsislamisten in Ankara, eine „Sicherheitszone“ von 5.000 Quadratkilometern zu errichten, die von Manbij bis Al Bab reichen solle (Erdogan will 5000 Quadratkilometer „Sicherheitszone“ in Syrien). Die von Ankara mobilisierten islamistischen Milizen, die unter dem Label FSA (Freie Syrische Armee) die türkische Invasion begleiten, würden in diesem Territorium die Macht ausüben. Diese Zone solle „mit Flüchtlingen bevölkert werden“, die dem Bürgerkrieg in Syrien entfliehen, bemerkte die Financial Times.

Dies diese Planungen zur Errichtung eines gigantischen Flüchtlingsghettos – bewacht von formell unabhängigen islamistischen Milizen – dürften auch den Urgrund der Nibelungentreue Angela Merkels zu Erdogan bilden. Hier wird ein gangbarer Weg gesucht, wie mit den Flüchtlingsmassen, die gen Europa strömen, langfristig umgegangen werden soll. Sie werden in einem poststaatlichen Protektorat interniert, in einer Zone der Exklusion, die islamistischen Extremisten zur Beherrschung überlassen werden soll.

Die Flüchtlinge sind somit längst zu einem geopolitischen Hebel geworden, dessen sich die Staatsislamisten in Ankara ausgiebig bedienen. Erdogan will somit die eigenen ehrgeizigen Expansionspläne in der Region zu forcieren, indem zugleich eine endgültige Abschiebezone für Flüchtlinge geschaffen wird, die aus Europa abgeschoben werden. Für alle Grausamkeiten und Exzesse werden künftig diejenigen Kräfte verantwortlich sein, denen die Macht in diesem Territorium der Exklusion überlassen wird. Falls sich überhaupt irgendwer dafür noch interessieren sollte.

Was sich punktuell in den Lagern – etwa im Pazifik – andeutet, würde somit in die territoriale Breite gehen. Die Flüchtlinge, die ökonomisch Überflüssigen, würden gefangen gehalten in einem Nirgendwo, in einem rechtlichen „Nicht-Ort“, der keiner eindeutigen Regierungsgewalt, keiner direkten Staatssouveränität, keinen verbindlichen Rechtsnormen unterliegt. Das Ganze erinnert an Dystopien, in denen bestimmte Regionen einfach von der Staatsmacht aufgegeben werden, um dorthin die Delinquenten abzuschieben. Ein Klassiker dieses dystopischen Filmgernes ist etwa John Carpenters Escape from New York.

Dabei formen sich diese Zonen der Exklusion, in denen sich die ökonomisch Überflüssigen sammeln, bereits jetzt quasi selbstständig aus der Krisendynamik heraus. Die Washington Post berichtete von einer Grenzzone zwischen Jordanien und Syrien, in der inzwischen rund 75 000 syrische Flüchtlinge gefangen sind.

Dieses gespenstische Niemandsland sei von den jordanischen Behörden, die diese sich dort sammelnden Menschenmassen nicht mehr über die Grenze lassen wollen, für Journalisten gesperrt worden.

Das Elend in diesem Niemandsland soll sich fernab der Öffentlichkeit entfalten. Berichten von Amnesty International (AI) zufolge sollen in dem isolieren Lager – zu dem selbst Hilfsorganisationen nur beschränkten Zugang haben – dramatische Zustände herrschen.

Krankheits- und Sterbefälle sollen sich unter den Flüchtlingen häufen, sodass inzwischen provisorische Friedhöfe angelegt wurden. Während vor einem Jahr AI nur 363 provisorische Unterkünfte in diesem Grenzgebiet zählte, waren es im Juli 2016 bereits 6 563 Notunterkünfte. Eine Stadt der spätkapitalistischen Aussätzigen wächst im Nirgendwo zwischen Syrien und Jordanien heran.

Die spätkapitalistische Welt als inverses KZ

Doch selbst diese Zonen der Exklusion könnten sich im Krisenfortgang schlicht als zu klein erweisen, da die Masse der ökonomisch Überflüssigen immer weiter anschwelle werde, wie etwa Hans Magnus Enzensberger in seinen berühmten Aussichten auf den Bürgerkrieg bemerkte:1

In New York ebenso wie in Zaire, in den Metropolen wie in armen Ländern werden immer mehr Menschen für immer aus dem ökonomischen Kreislauf ausgestoßen, weil sich ihre Ausbeutung nicht mehr lohnt.

Perspektivisch lasse dieser Krisenprozess die Integrität der kapitalistischen Territorien zerfallen, es bildeten sich „geschützte Gebiete mit eigenen Sicherheitsdiensten auf der einen, Slums und Gettos auf der anderen Seite“ heraus, in denen die staatlichen Machtstrukturen kaum noch präsent seien. Überall werde an der Befestigung von Grenzen gearbeitet, die die desperaten Überflüssigen abwehren sollen. Mauer und Stacheldraht erleben ihre Renaissance.

Dieser große spätkapitalistische Limesbau findet nicht nur an den Grenzen der Metropolen, wie etwa an der EU-Südgrenze oder im Süden der USA statt, sondern auch innerhalb den territorial zerfallenden Staaten selber – etwa durch Gentrifizierung oder den Boom der sogenannten „Gated Communities“, abgeschlossener und bewachter Siedlungen für die schrumpfende Ober- und Mittelklasse.

Enzensberger spricht in diesem Zusammenhang – vor allem in Hinblick auf die Lage in der Peripherie des Weltsystems – von Stadtvierteln, die nur noch „mit Sonderausweisen“ betreten werden könnten:

Schranken, elektronische Kameras und scharf dressierte Hunde kontrollieren den Zugang. Maschinengewehrschützen auf Wachtürmen sichern die Umgebung. Die Parallele zum Konzentrationslager ist augenfällig, nur dass es hier die Außenwelt ist, die von den Insassen als potenzielle Zone der Vernichtung betrachtet wird.

Diejenige, die noch nicht ökonomisch abgestürzt sind, ziehen sich somit selber in „Reichenlager“ zurück, die sich in einem unerklärten Kriegszustand mit der anomischen Außenwelt befinden. Diese Perspektive eines molekularen Bürgerkrieges ist bereits in vielen Ländern der Peripherie Realität – etwa in Brasilien.

Die Analogie des „umgekehrten KZ“, bei dem nur noch befestigte Zonen der Stabilität in einem Meer der Anomie gehalten werden, das als potenzielle „Zone der Vernichtung“ betrachtet wird, kann somit auch auf globaler Ebene gebildet werden. Die erodierenden Zentren des Weltsystems schotten sich immer stärker gegen das um sich greifende Chaos in der Peripherie ab, bis bloß noch eine Zone „potenzieller Vernichtung“ ökonomisch Überflüssiger darstellt.

Das militärische Vorgehen der Metropolen richtet sich nicht mehr auf die Ausbeutung des Menschenmaterials der Peripherie des Weltsystems, sondern auf die Abschottung der eigenen Territorien gegenüber dem kriegsbedingten Chaos, das sich wie ein Flächenbrand ausweitet. Die Beseitigung der „Überflüssigen“ in den Zentren wird dann nicht mehr aktiv betrieben, wie in einem faschistischen Lagersystem, sondern vermittels Abschiebungen in die Zonen des sozioökonomischen Zusammenbruchs.

Genau dies hat ja im Endeffekt schon die CSU vorgeschlagen, als sie für Abschiebungen von Flüchtlingen in „Krisenstaaten“ plädierte Man lässt es geschehen.

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