Fluchtpunkt Amok

Telepolis, 10.07.2016
Vom Amoklauf zum Terrorakt: Reflexionen zum Durchbruch der molekularen Form eines autodestruktiven Terrorismus

Orlando war Mitte Juni Tatort des blutigsten Massakers, das in der jüngsten Geschichte der Vereinigten Staaten verübt worden ist. 49 Gäste des bei der LBGT-Community sehr beliebten Nachtclubs wurden von einem Amokläufer ermordet, der anscheinend ein Mitglied des Islamischen Staates war. Doch Omar Mateen, der 29-jährige Täter, bekannte sich zwar während des Massenmordes zum Islamischen Staat, ohne aber jemals – wie die CIA im Nachhinein ermittelte – direkten Kontakt mit der Terrororganisation gehabt zu haben.

Der amerikanischen Öffentlichkeit fiel es schwer, den Massenmord in Orlando eindeutig einzuordnen. Handelte es sich hierbei um einen jener Amokläufe, die in den Vereinigten Staaten inzwischen zur blutigen Routine geworden sind? Oder ist der selbst- und massenmörderische Gewaltexzess gegen Homosexuelle als ein islamistischer Terrorakt zu begreifen, da sich der Täter zum Islamischen Staat bekannte?

Ein ähnliches Tatmuster, bei dem isolierte Täter kurz vor ihren Massakern sich dem Islamischen Staat quasi symbolisch anschließen, war auch beim Amoklauf im kalifornischen San Bernardino festzustellen, dem im vergangenen Dezember 14 Menschen zum Opfer fielen. Die Täter, das Terrorpaar Syed Rizwan Farook und Tashfeen Malik, haben ebenfalls dem Islamischen Staat kurz vor der Tat Gefolgschaft geschworen, ohne direkten Kontakt zu diesem Terrornetzwerk zu haben. Das FBI sprach in diesem Zusammenhang von „einheimischen Terroristen“, die durch ausländische Terrororganisationen „inspiriert“ worden waren.
Islamistische und rechtsextremistische Terrorakte – zum Verwechseln ähnlich

Die Praxis des islamistischen Terrorismus ist den rechtsextremistischen Terrorakten zum Verwechseln ähnlich. Dem irren Egomanen von Orlando, der während des Massenmords seinen Impact auf Facebook studierte, entspricht der faschistische Massenmörder Breivik, der bei seiner Gerichtsverhandlung nur ein einziges Mal Gefühle zeigte: Als er vor Rührung über seine eigene wirre Propaganda weinte.

An den massenmörderischen Taten wird die gleiche ideologische Funktion von Islamismus wie Rechtsextremismus deutlich (Von grünen und braunen Faschisten). Es sind Krisenideologien, die als ein Extremismus der Mitte die irrationalen Momente kapitalistischer Vergesellschaftung ins Extrem treiben, sobald diese in eine schwere Krise gerät. Beim Rechtsextremismus sind es der Nationalismus und Rassismus, die krisenbedingt in den manifesten eliminatorischen Wahn umschlagen. Beim Islamismus ist es hingegen die religiöse Identität in der „Mitte“ der Gesellschaften des islamischen Kulturkreises, die zu einer krisenbedingten Vernichtungsideologie ausartet.

Und es sind die regelrecht autistischen Charakterzüge der sozial verkrüppelten Täter, der sie so unheimlich ähnlich macht. Über Breiviks geistigen Zustand herrschte lange Zeit Unklarheit, die diesbezüglichen Auseinandersetzungen zwischen einweisungswilligen Psychiatern und den Anwälten des „Tempelritters“, der unbedingt ins Gefängnis wollte, prägten seinen Prozess.

Der Täter von Orlando hat offensichtlich unter seiner verdrängten Homosexualität gelitten, die den Massenmord an Homosexuellen motiviert haben könnte. Der rechtsextreme Mörder der britischen Labour-Abgeordneten Jo Cox, der sich mit Nazipropaganda eindeckte und Kontakte in die faschistische Szene pflegte, bat kurze Zeit vor dem Mord um eine psychiatrische Behandlung.

Rechtsextrem geistig verwirrt, isoliert und marginalisiert war auch die Hassmolekül-Person, welche die Kölner Bürgermeisterkandidatin Henriette Reker im Oktober 2015 bei einem Messerangriff schwer verletzte.

Geistige Umnachtung, die vom Pathogenen ins Pathologische umschlägt, charakterisiert viele der rechtsextremen wie islamistischen Täter in den Zentren des Weltsystems. Die terroristische Karriere dieser oftmals isolierten, oftmals bindungsunfähigen Amokterroristen verläuft somit vom gemeinen extremistischen Forentroll, wie sie zu Hunderttausenden die Internetforen bevölkern, zum massenmörderischen Amokläufer.
Molekularisierung des Terrors

Offensichtlich verschwimmen die Grenzen zwischen pathologischem Massenmord und religiös oder politisch/ideologisch motivierten Extremismus in diesen massenmörderischen Taten – und gerade hierin liegt ihr neuartiger, in die Krisenzukunft weisender Charakter. Amok und Terror fallen in eins, angefacht von einer morbiden Geltungssucht der von einer grenzenlosen Vernichtungswut verzehrten Täter, die zumeist als Borderline-Persönlichkeiten zu charakterisieren sind, und den entsprechenden, auf „Molekularisierung“ des Terrors abzielenden, Strategien der Terrornetzwerke.

Rechtsextremismus und Islamismus wirken wie ideologische Magnete auf derart geistig labile Menschen mit entsprechenden autoritären und sadistischen Dispositionen, die hier eine oberflächliche Legitimierung für das Ausleben von Wahn und Gewalt finden.

Der Islamische Staat, dessen Fähigkeit, zentral organisierte Terrorakte zu verüben, inzwischen stark gelitten hat, propagiert solche von „einsamen Wölfen“ begangenen Massenmorde, wobei die Täter im Nachhinein von der islamistischen Terrorpropaganda glorifiziert werden. Eigentlich agiert der IS hier nur noch als ein globaler terroristischer Franchise-Konzern, der bloß mehr einen ideologischen Überbau, eine oberflächliche Rechtfertigung für die irren Taten der einzelnen Hassmoleküle liefert, die ihren Massenmord ganz in Eigenregie planen und ausführen.

In Europa ist man bei der Molekularisierung des Terrors schon weiter. Der terroristische europäische Rechtsextremismus, dem zuletzt die Labour-Abgeordnete Jo Cox zum Opfer fiel, bringt keine kohärenten organisatorischen Strukturen hervor. Die Täter werden in einem internetbasierenden Hassschwarm zum Mord konditioniert, der immer öfter irre Elementarteilchen absondert, die in Eigenregie ihren ganz persönlichen Vernichtungsfeldzug durchführen. Mensch könnte von einer Individualisierung des Terrors und des Wahns sprechen – wenn es hier noch Individuen gäbe.
Individualismus und Marktkonkurrenz

Vom Individualismus kann aber keine Rede sein, es sind durch die totalitäre Entgrenzung des Kapitals ausgebrannte Subjekthülsen, die in ihrem persönlichen Vernichtungswahn die systemische Krisentendenz des autodestruktiven Spätkapitalismus exekutieren. Die isolierten, geistig umnachteten und zu menschlichen Bindungen kaum noch fähigen Täter agieren als unsoziale gesellschaftliche Moleküle, als bloße Elementarteilchen, die in anonymen „sozialen Netzwerken“ zu hassen gelernt haben.

Auch hier wird nur ein zentrales Merkmal kapitalistischer Vergesellschaftung krisenbedingt ins Extrem getrieben: die Marktkonkurrenz. Die terroristischen Hassmoleküle, die der Spätkapitalismus produziert, bilden nur die logische krisenhafte Konsequenz der markt- und konkurrenzvermittelten Reproduktion im Kapitalismus, bei der jeder Mensch eine Ware ist und alle sich als Konkurrenten zueinander verhalten müssen.

Die zunehmende Krisenkonkurrenz produziert entsprechende Pathologien (Die kränkelnde Arbeitsgesellschaft), die immer öfter im Amok Zuflucht suchen. Unfähig, die krisenbedingt zunehmenden und unverstandenen Widersprüche, denen die Insassen der spätkapitalistischen Tretmühle verstärkt ausgesetzt sind, noch zu ertragen, fliehen die Täter in die Selbst- und Weltvernichtung. Dies ist der letzte logische Akt einer entgrenzten und destruktiven Konkurrenz Aller gegen Alle, die der Spätkapitalismus spätestens seit der neoliberalen Wende propagiert.

Der Begriff des molekularen Bürgerkrieges, geprägt von Hans Magnus Enzensberger, bringt das in der gegenwärtigen Systemkrise zunehmende Umschlagen von Marktkonkurrenz in blanken Vernichtungswahn auf den Punkt. Die Täter als (un-)gesellschaftliche Moleküle sind somit Ausscheidungen des um sich greifenden Extremismus der Mitte, der das dem Kapitalismus schon immer innewohnende irrationale Vernichtungspotenzial in der Krise explizit macht.
Der letzte Fluchtpunkt

Taten sprechen für sich, sie zielen auf blanke Vernichtung ab. Die konkrete Ideologie ist unbeständig, sie fluktuiert permanent und stellt nur noch ein beliebig austauschbares Label dar. Islamismus und Rechtsextremismus bilden nur den jeweiligen kulturbedingten Resonanzboden, aus dem der systemische Vernichtungswahn hervorgehen kann. Der Extremismus der Mitte der amoklaufenden Hassmoleküle macht somit die globale, objektive Krisentendenz des Kapitals anhand des subjektiven Massenmords explizit.

Das Kapitalverhältnis als globales System, als fetischistisches Verhängnis geht in seiner Agonie in offene Weltvernichtung über, die der Menschheit die sozialen und ökologischen Grundlagen des Zivilisationsprozesses entzieht. Bei dieser krisenbedingt eskalierenden Flucht des Kapitals vor sich selbst – vor seinen eskalierenden inneren und äußeren Widersprüchen – bildet der Amoklauf den letzten Fluchtpunkt.
Apokalypse als Mainstream: Todeskultur

Die Flucht des Systems in die Selbstzerstörung – die den amoklaufenden Terroristen zu ihrer Avantgarde macht – kommt auch in den Produkten der Kulturindustrie zu Geltung, die sich im Weltuntergang, in der Zombieapokalypse suhlt. Nicht nur im Kino, auch im Computerspiel als dem avanciertesten industriekulturellen Produkt, ist die Apokalypse längst zum Mainstream geworden.

Die zunehmende Krisenkonkurrenz bringt eben entsprechende Kulturprodukte hervor, in denen diese Realitäten gespiegelt werden: von Breaking Bad bis Game of Thrones. Das System kann Alternativen zur kapitalistischen Dauerkrise nicht verhandeln, deswegen schwitzt es die Ahnung seiner letalen Krisis in einer Flut brutalster Weltuntergangsprodukte heraus.

Der Spätkapitalismus bringt in seiner Kulturindustrie eine regelrechte Todeskultur hervor, die den Weltuntergang in ästhetisch reizvolle Bilder verpackt. Womit sich der Kreis zu der Todessekte Islamischer Staat schließt, die gerade kein Anachronismus ist, sondern Produkt der krisenhaften kapitalistischen Globalisierung: sowohl auf ideologischer Ebene, in der expliziten Todessehnsucht, die der IS mit der Kulturindustrie teilt, wie auch organisatorisch, als global agierendes Netzwerk und Label, mit dem sich jede autoritäre Persönlichkeit identifizieren kann, die an den krisenbedingt eskalierenden Widersprüchen zerbricht. (Tomasz Konicz)

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