Kampf ums »Volkstum« auf ungarisch

„Junge Welt“, 02.11.2007
Budapest verlangt von Slowakei Rücknahme der Benes-Dekrete. Steigende Spannungen

Ungarn setzt derzeit alle Hebel in Bewegung, um die Slowakei in einem seit Monaten schwelenden, seit einigen Wochen jedoch offen ausgebrochenen Konflikt unter Druck zu setzen. Am 22. Oktober meldete die Zeitung Budapesttimes, daß der außenpolitische Ausschuß des US-Repräsentantenhauses auf Betreiben des ungarischstämmigen Abgeordneten Tom Lantos einen Protestbrief an den slowakischen Premier Robert Fico schreiben wolle, um diesen zur Einhaltung »der demokratischen Rechte, der Toleranz und des Respekts ethnischen Minderheiten gegenüber« zu ermuntern.

Die in der »Ungarischen Koalitionspartei« (SMK) organisierte ungarische Minderheit in der südlichen Slowakei sieht sich seit der Formierung der aktuellen Regierungskoalition aus Sozialdemokraten, Populisten und Nationalisten in ihren Rechten eingeschränkt. Die SMK war bis zum Sieg der Sozialdemokraten Ficos an der neoliberalen Koalition von Mikulas Dzurinda beteiligt. Zu heftigen Wortgefechten kommt es insbesondere zwischen dem an der Regierung Fico beteiligten Chef der rechtsradikalen Slowakischen Nationalpartei (SNS), Jan Slota, und ungarischen Politikern.

Zur jüngsten Eskalation führte ein verschärfter, konfrontativer Kurs der SMK gegenüber Bratislava, die von der Regierung Fico die Rücknahme der Benes-Dekrete forderte. Die Benes-Dekrete dienten als rechtliche Grundlage der Umsiedlung Sudetendeutscher und der mit Nazideutschland verbündeten Ungarn aus der Tschechoslowakei (CSSR) nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges. Im Gegensatz zu den Sudetendeutschen konnte ein Großteil der slowakischen Ungarn in der CSSR verbleiben und schon 1948 die tschechoslowakische Staatsbürgerschaft erneut erhalten. Die ungarischen Scharfmacher der SMK wandten sich im September ursprünglich sogar an das slowakische Parlament, um von ihm eine offizielle Entschuldigung und Wiedergutmachung für das durch die Benes-Dekrete erlittene »Unrecht« zu erhalten.

Als Antwort erhielt die SMK am 20. September eine Resolution des slowakischen Parlaments, in dem die Benes-Dekrete als unabänderlich und »unantastbar« bezeichnet werden. Alle Parteien mit Ausnahme der SMK stimmten diesem Parlamentsbeschluß zu. Der ehemalige slowakische Premier Vladimir Meciar fragte im Zuge der Parlamentsdebatte: »Sollen wir uns bei Faschisten entschuldigen? Nur weil sie einer speziellen Nationalität angehören?« Auch der jetzige Premier Fico betonte, daß es sich bei den ca. 50 000 ab 1945 ausgewiesenen Ungarn um Kollaborateure Nazideutschlands gehandelt habe. Derzeit leben an die 600000 Ungarn in der Slowakei.

Die Resolution rief wiederum die ungarische Regierung auf den Plan. Sie reagierte mit dem Verweigern bilateraler Begegnungen mit Diplomaten und Spitzenpolitikern der Slowakei. Eine wütende Medienkampagne mündete in Ausschreitungen vor der slowakischen Botschaft in Budapest. Mitglieder der rechtsradikalen Partei Jobbik forderten sogar eine Volksabstimmung über die Ausweitung der Autonomie der ungarischen Minderheit in der Südslowakei.

Einen vorläufigen Höhepunkt erreichten die bilateralen Auseinandersetzungen mit einen »Privatbesuch« des ungarischen Präsidenten László Sólyom in den Hochburgen der ungarischen Minderheit in der Südslowakei. Als das ungarische Staatsoberhaupt dort im Oktober die Benes-Dekrete öffentlich kritisierte, riß etlichen slowakischen Politikern der Geduldsfaden. Premier Fico warf Sólyom vor, sich zu verhalten, als sei er in »Nordungarn«.

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