Anwalt der Armen

„Junge Welt“, 30.10.2007
Mit einer stärkeren Konzentration auf soziale Themen wollen Rußlands Kommunisten im Wahlkampf punkten

Beim Wahlkampfauftritt des russischen KP-Vorsitzenden Gennadi Sjuganow in der südrussischen Industriestadt Nowotscherkassk in der vergangenen Woche spielten die örtlichen Lebensmittelgeschäfte eine besondere Rolle. Bei nahezu allen Reden und Auftritten der letzten Zeit geißelte Sjuganow die horrende Inflation bei den Grundnahrungsmitteln sowie die abwartende Haltung des Kreml in dieser Frage. Während das russische Statistische Amt kurz vor den Dumawahlen am 2. Dezember partout nur eine Inflation von 0,8 Prozent im September gemessen haben will, konstatieren andere Untersuchungen regelrechte Preisschocks von 10 bis 70 Prozent.

So auch in Nowotscherkassk: »Ich sehe immer noch nicht, daß Herr Putin und seine Regierung sich ernsthaft des Anstiegs der Lebensmittelpreise annehmen würden«, erklärte der KP-Vorsitzende, der sich von Kunden und Verkäufern das Ausmaß der Inflation erläutern ließ. Die Preise seien für nahezu alle Lebensmittel spürbar gestiegen, Käse sei nun doppelt so teuer wie noch vor kurzem, Sonnenblumenöl stieg von 20 auf 40 Rubel, auch bei Eiern verdoppelte sich der Preis. Höhere Preise ruinierten das Land, erklärte Sjuganow, speziell die 50 Millionen Bürger, die weniger als 5000 Rubel (ca. 150 Euro) monatlich verdienten.

Die KPRF fordert von der Regierung eine entschlossene Intervention, um den Preisauftrieb zu stoppen. Die Preise für Brot und Milchprodukte müßten eingefroren, entschiedene Maßnahmen gegen Monopolabsprachen und Spekulation im Lebensmittelsektor ergriffen werden. Die KPRF beteiligt sich maßgeblich an einem »Nationalen Stab zu Koordinierung der Protestbewegung«, der für die heiße Phase des Wahlkampfs eine »Welle des Widerstandes« angekündigt hat.

Unter dem Druck der Straße hat der Kreml die größten Lebensmittelhersteller des Landes inzwischen dazu verpflichtet, ihre Preise auf dem Niveau vom 15. Oktober einzufrieren. Glaubt man den offiziellen Umfragen, haben die steigenden Preise die Popularität von Präsident Wladimir Putin nicht gefährdet. Neuesten Analysen zufolge konnte die Präsidentenpartei »Einiges Rußland« einen Popularitätsschub von 55 auf 68 Prozent verzeichnen, nachdem Putin bekanntgab, an der Spitze von deren Kandidatenliste anzutreten. Die KPRF kommt demnach auf 17 Prozent Wählerzuspruch, die »Liberaldemokraten« des Politkaspers Schirinowski könnten ebenso an der neu eingeführten Sieben-Prozent-Hürde scheitern wie die kremltreue Linkspartei »Gerechtes Rußland«.

Die KPRF sieht sich selbst schon lange nicht mehr als eine revolutionäre Kraft. Man wolle ein linkszentristische Politik zum Wohle des Volkes machen, erklärte Sjuganow gegenüber der Tageszeitung Kommersant. Damit rücken die national-patriotischen Positionen der russischen KP zugunsten sozialer Forderungen wie Preisstopp, kostenlose Bildung und Gesundheitsversorgung in den Hintergrund. Bei aller Befürwortung einer starken Stellung des Staates in der Ökonomie, einer Abrechnung mit der Oligarchie und den Forderungen nach der Verstaatlichung aller Rohstoffvorkommen – das kapitalistische System wird nicht mehr explizit in Frage gestellt. Nach mehreren Reisen nach Lateinamerika orientiert sich die KPRF auch an Vorbildern wie Hugo Chávez und Evo Morales, oder den belarussischen Präsidenten Alexander Lukaschanko, um der potentiellen Wählerschaft gangbare, aktuelle Alternativen aufzuzeigen.

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