Strategische Achse

„Junge Welt“, 21.08.2007
Merkel auf Ungarn-Visite

Dissens wird nicht erwartet, wenn Angela Merkel heute Ungarn besucht. Im Zentrum der »Arbeitsvisite« sollen die Lage auf dem Balkan und der Ausbau der bilateralen Wissenschaftskontakte stehen. Die gesamte erste Garde der ungarischen Polit­elite wird der deutschen Kanzlerin ihre Aufwartung machen. Neben dem sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Ferenc Gyurcsany und Staatspräsident László Sólyom haben auch der konservative Oppositionsführer Viktor Orbán und die Vorsitzende des »Ungarischen Demokratischen Forum«, Ibolya Dávid, einen Termin erhalten.
Die engen Beziehungen zu Deutschland dürften auch eine der wenigen Gemeinsamkeiten des ansonsten heillos zerstrittenen politischen Führungspersonals in Budapest darstellen, denn sie fußen auf einer festen, ökonomischen Grundlage. Ungarn ist ein geradezu klassisches Beispiel für die ungeheure Wucht, mit der das deutsche Kapital in der osteuropäischen Peripherie expandierte – gespeist durch die exorbitanten Profite, die dank Lohnkürzungen und Sozialabbau in Deutschland realisiert wurden. Die von Berlin angestrebte politische Hegemonie innerhalb der EU ist in ökonomischer Hinsicht in Osteuropa längst Realität.

Selbstverständlich ist Deutschland der mit Abstand wichtigste Handelspartner der Magyarenrepublik. An die 25 Prozent aller Importe Ungarns pumpt der »Exportweltmeister« in das Land, das wiederum ein knappes Drittel seiner Exporte zwischen Oder und Rhein absetzt. Mit über zwölf Milliarden Euro entfallen etwa 30 Prozent aller Direktinvestitionen seit 1990 auf deutsches Kapital, das inzwischen 7000 ungarische Unternehmen ganz oder teilweise kontrolliert. Hinzu kommen prestigeträchtige Großprojekte, die deutsche Großkonzerne wie Audi, Bosch und Siemens im Automobil- und Maschinenbau realisierten.

Gemeinsam mit Österreich – als Nachbar nicht zufällig der zweitgrößte Handelspartner Ungarns – zeichnet sich eine historisch hinlänglich bekannte strategische Achse zwischen Berlin, Wien und Budapest ab. Sie entstand nicht nur auf Grundlage ökonomischer Abhängigkeiten, sondern auch durch ideologische Interessenskonvergenzen. In Ungarn konnten sich ähnliche Staatsvorstellungen entwickeln, wie sie auch in Berlin gepflegt werden. Vermittels einer rassisch grundierten »Volksgruppenpolitik« ist Budapest bestrebt, die ungarischen Minderheiten in Rumänien, der Slowakei und der Vojvodina durch Privilegien an sich zu binden und die territoriale Integrität dieser Nachbarstaaten zumindest implizit in Frage zu stellen.

Es versteht sich, daß Deutschland und Ungarn eng in der Minderheitenpolitik zusammenarbeiten. Verwundern sollte nicht, wenn die Frage der ungarischen Minderheit in der serbischen Vojvodina auf die internationale Tagesordnung käme, falls Serbien weiterhin eine Sezession des Kosovo ablehnt: Die Kanzlerin will ja in Budapest die »Lage auf dem Balkan« diskutieren. Und das soll Belgrad wohl schon als Drohung auffassen.

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