Happy Birthday, Schweinesystem!

Telepolis, 15.03.2013

Deutschlands Eliten aus Wirtschaft und Staat haben allen Grund, das zehnjährige Jubiläum ihrer Agenda 2010 zu feiern. Für die Lohnabhängigen ist es hingegen der Jahrestag einer historischen Niederlage

„Wer sich vorm Arbeiten drückt, muss mit Sanktionen rechnen.“ Altkanzler Gerhard Schröder durfte anlässlich des zehnten Jahrestages der Agenda 2010 in der BILD-Zeitung nochmals die wichtigste Parole von sich geben, mit der seine Koalitionsregierung aus SPD und Grünen den größten Sozialkahlschlag in der Geschichte der Bundesrepublik gegen eine breite Oppositionsbewegung durchsetzte. Im Deutschen Bundestag mussten die Sozialdemokraten mitsamt ihren Juniorpartnern aus der Partei der „Grünen“ hingegen keinen Widerstand fürchten, da die Agenda von der CDU wie der FDP unterstützt wurde.

Folglich setzt nun das ganz große mediale Schulterklopfen bei fast allen Beteiligten ein. Die Bundestagsfraktion bereitete Schröder bei einer Visite einen begeisterten Empfang, der zuletzt auch noch „weiteren Mut“ zur Durchsetzung einer „Agenda 2020“ forderte. Auch Unions-Fraktionsvorsitzender Volker Kauder lobte die von Rot-Grün durchgesetzten Strukturreformen, die der als die Grundlage „des heutigen wirtschaftlichen Erfolges Deutschlands“ bezeichnete. Diverse Unionspolitiker, wie etwa Finanzminister Wolfgang Schäuble , konnten der SPD nur vorwerfen, im derzeitigen Vorwahlkampf von der damaligen Agenda-Politik verbal abgerückt zu sein.

Mit der Agenda 2010 leitete diese ganz große Koalition die bislang größte und erfolgreichste Offensive gegen die kümmerlichen zivilisatorischen Mindeststandards, die dem bundesrepublikanischen Kapitalismus in den Nachkriegsjahrzehnten mühsam abgetrotzt werden konnten. Form und Inhalt kamen bei der Durchsetzung des auf gesamtgesellschaftliche Konkurrenzoptimierung ausgerichteten Maßnahmenpaketes, das wohl die wichtigste wirtschafts- und sozialpolitische Zäsur in der deutschen Nachkriegsgeschichte markiert, zu einer totalen Übereinstimmung: Ausgebrütet hinter verschlossenen Türen von Kapitallobbygruppen wie der Bertelsmannstiftung („Ohne Bertelsmann geht nichts mehr“) und Unternehmensberatern wie McKinsey, die im öffentlichen Diskurs beständig als „unabhängige Experten“ firmierten, zielten die Reformen letztendlich auf die Unterwerfung aller Lebensbereiche unter eine betriebswirtschaftliche Logik.

Die Wirtschaft ging daran, die Gesellschaft bewusst nach ihrem Ebenbild umzuformen. Die Bundesrepublik sollte wie ein Unternehmen geführt, zur „Deutschland AG“ zugerichtet werden. Alle Gesellschaftssphären – von der Bildung, über die Krankenversorgung, das Rentensystem, den Sozialstaat bis zur Familienpolitik – wurden einem gnadenlosen Kosten-Nutzen-Kalkül unterzogen. Ein totalitärer Ökonomismus strebte die Eliminierung aller als Kostenfaktoren identifizierten Bereiche und Strukturen an, die die fetischisierte Wettbewerbsfähigkeit des „Wirtschaftsstandortes Deutschland“ zu unterminieren schienen. In einer flankierenden jahrelangen Pressekampagne überbot sich die Presse in der Identifizierung „verkrusteter Strukturen“ und uneinsichtiger „Besitzstandswahrer“. Mit der Agenda 2010 wurde insbesondere die zügellose Hetze gegen Arbeitslose in den Massenmedien forciert und in der Öffentlichkeit etabliert.

Die Agenda 2010 mitsamt den Hartz-Arbeitsgesetzen zielte auf die Absenkung des Preises der Ware Arbeitskraft, die Verschärfung des Arbeitsregimes, die umfassende Prekarisierung des Arbeitslebens sowie die Entrechtung und Entmachtung der Lohnabhängigen in Deutschland. Es ist kein Zufall, dass der damals in der Bundesrepublik umgesetzte Demokratie- und Sozialabbau den heutzutage in Südeuropa durchgepeitschten Sparterror zum Verwechseln ähnelt. Die Enteignung und Entrechtung der Lohnabhängigen vollzog sich unter anderem durch die Senkung der öffentlich als „Lohnnebenkosten“ bezeichneten Einkommensanteile, durch massive Leistungskürzungen in der Krankenversicherung, die Aushöhlung des Rentensystems oder die berüchtigten „Lockerungen“ des Kündigungsschutzes, die den Ausbau von Leiharbeit in einem Niedriglohnsektor beförderten.

Den durchschlagenden Erfolg dieser von SPD und „Grünen“ durchgesetzten Prekarisierungspolitik illustriert die folgende Grafik, die den Anteil der Niedriglohnempfänger an allen Arbeitnehmern im europäischen Vergleich in 2010 darstellt. Die Bundesrepublik hat inzwischen auch in dieser Kategorie den europäischen Spitzenplatz errungen und sogar das neoliberal zugerichtete Großbritannien überholt: 22,3 Prozent aller Lohnabhängigen in Deutschland arbeiten für einen Hungerlohn, im EU-Durschnitt sind es nur 17 Prozent.

Flankiert wurden diese Maßnahmen durch eine Steuerpolitik die enorme Steuererleichterungen für Konzerne und Reiche mit einer drastischen Erhöhung der Konsumsteuern kombinierte: Im Vorfeld der Agenda 2010 hat die Rot-Grüne Regierungskoalition unter Schröder-Fischer bei ihrer Steuerreform die Spitzensteuersätze (von 53 auf 42 Prozent), die Körperschaftssteuern und die Gewerbesteuern abgesenkt und gigantische Steuerschlupflöcher geschaffen. Im Jahr 2001 etwa verzeichnete der deutsche Staat ein negatives Körperschaftssteueraufkommen, da er aufgrund exzessiv ausgeweiteter Abschreibungsmöglichkeiten Körperschaftssteuer in Milliardenhöhe an Konzerne, Versicherungen und Banken zurückzahlen musste. Folglich musste die „Große Koalition“ aus CDU und SPD ab 2007 die Mehrwertsteuer um drei Prozentpunkte anheben, um diesen Einnahmeverlust zu kompensieren. Mit dieser an der Supermarktkasse zu entrichtenden Kopfsteuer, die vor allem Arme überdurchschnittlich stark belastet, wurden letztendlich die Steuergeschenke für Vermögende und Unternehmen gegenfinanziert.
Die Arbeitsmarktgesetze bildeten den eigentlichen Zivilisationsbruch innerhalb der Agenda 2010

Den repressiven Kern der Agenda 2010 bilden aber die Hartz-Arbeitsgesetze, die konsequenterweise von dem VW-Kapitalfunktionär Peter Hartz in Kooperation mit der Unternehmensberatung McKinsey ausgebrütet worden sind. Diese zwischen 2003 und 2005 eingeführten Arbeitsmarktgesetze bildeten den eigentlichen Zivilisationsbruch innerhalb der Agenda 2010: Nach einem Jahr auf Arbeitslosengeld rutschen alle Arbeitslosen – unabhängig von der Anzahl der Arbeitsjahre, in denen sie Beiträge zur Arbeitslosenversicherung gezahlt haben – in das Arbeitslosengeld 2 (ALG2). Mit dem ALG2 wurde in übelster deutscher Tradition Zwangsarbeit für Arbeitslose eingeführt und dafür ein Repressionsinstrumentarium geschaffen. Der damalige SPD-Arbeitsminister Franz Müntefering hat diese mörderische Logik auch offen formuliert: „Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen.“ Im Endeffekt müssen nach der Implementierung von Hartz IV, bei der die „Zumutbarkeitsreglen“ verschärft wurden, alle Arbeitslosen jegliche Arbeitsangebote der Arbeitsvermittlung annehmen, sie müssen selbst an den unsinnigsten „Weiterbildungsangeboten“ teilnehmen und sie werden genötigt, sogenannte 1-Euro-Jobs zu verrichten.

Sobald ein Arbeitsloser eine ausbeuterische Arbeitsgelegenheit – etwa bei einer Zeitarbeitsfirma – ablehnt, nicht einem stupiden Weiterbildungskurs (Computerbedienung für Anfänger) teilnimmt oder das mit einem Euro die Stunde vergütete Sammeln von Hundescheiße im Park verweigert, können seine „Fallmanager“ ihm bekanntlich das ohnehin unzureichende Arbeitslosengeld 2 kürzen und im Wiederholungsfall sogar ganz streichen. Seinen ersten Hungertoten produzierte das Hartz-System 2007. Der psychisch kranke 20-jährige Sascha K. wurde am 15. April verhungert in seiner Wohnung aufgefunden, seine 48-jährige Mutter musste wegen Mangelerscheinungen in ein Krankenhaus eingeliefert werden, nachdem Monate zuvor ihr Fallmanager alle Zahlungen von ALG2 eingestellt hat. Die Verantwortlichen in der zuständigen Behörde wurden selbstverständlich nicht belangt – sie handelten ja gesetzeskonform. Letztendlich bildet diese Drohung mit dem Hungertod den innersten Kern von Agenda 2010 und Hartz IV.

Diese mit der Agenda 2010 eingeführte und von Müntefering explizit formulierte Vernichtungsdrohung – die in Gestalt beständiger Abstiegsängste wie ein Alb auf der gesamten deutschen Arbeitsgesellschaft liegt – bildete den wichtigsten Faktor, der die Agenda 2010 zu solch einem gigantischen Erfolg für deren Initiatoren in Politik und Wirtschaft werden ließ.

Die Bundesrepublik verfügte 2010 neben den größten Billiglohnsektor Westeuropas auch über ein riesiges Heer an Zeitarbeitskräften: Rund eine Million Lohnabhängige müssen inzwischen in Deutschland als Leiharbeiter über die Runden kommen. Vermittels der Verschärfung der Zumutbarkeitsregeln und der Drohung mit Leistungsentzug konnten die Arbeitsagenturen diesen extrem ausbeuterischen Niedriglohnsektor genügend Menschenmaterial zuführen, das dort bis zur totalen Erschöpfung verheizt wird. Den wir wissen nun: Wer nicht bis zum Umfallen arbeitet und sich wie eine Zitrone von skrupellosen Menschenschindern auspressen lässt, der soll auch nicht essen. Und selbstverständlich schlugen sich diese Maßnahmen auch in einem gigantischen Lohnkahlschlag in der Bundesrepublik nieder, wie die folgende Grafik belegt.

Der preisbereinigte durchschnittliche Nettolohn sank von rund 1.540 Euro Anfang 2004 auf rund 1.430 Euro im ersten Quartal 2009. Folglich lag trotz kurzer Aufschwungphasen in der angeblich boomenden Deutschland AG der Durchschnittslohn im dritten Quartal 2011 um 5,5 Prozent unter dem Wert vom ersten Quartal 1991 und 4,07 Prozent unter der durchschnittlichen Vergütung in 2000. Bezeichnend ist auch, dass das Lohnniveau in der angeblich „boomenden“ Bundesrepublik seit dem kurzen Anstieg in 2009/2010 erneut stagniert.

Abschied von der Illusion einer „Zivilisierung“ des Kapitalismus

Diese eindeutigen Zahlen vermögen es aber nicht, die tiefreichenden autoritären Transformationsprozesse innerhalb der deutschen Gesellschaft widerzuspiegeln, deren Katalysatoren Agenda 2010 und Hartz IV waren. Insbesondere die Hartz-Arbeitsgesetze stellen ein Unterwerfungssystem dar, das auf die Produktion von Untertanen, auf die Eliminierung aller Widerstandspotenziale der Lohnabhängigen und deren totale Entsolidarisierung abzielt. Den Marktextremismus der Agenda 2010 bringt wohl am besten das damals propagierte Ideal der „Ich-AG“ zur Geltung: Wir alle hätten uns als die „Unternehmer unserer Selbst“ zu betrachten, als in allseitiger Konkurrenz zueinander befindliche Marktatome, die nur noch nach der optimalen Verwertung ihrer Arbeitskraft zu streben haben. Ohne Übertreibung kann konstatiert werden, dass dieses extremistische Entrechtungs- und Kahlschlagprogramm die gesamte Bundesrepublik von Grund auf verändert hat. Die von Rot-Grün durchgesetzten „Reformen“ bildeten den Abschied von der Ära der Nachkriegsprosperität in der BRD, einen Abschied von der Illusion einer „Zivilisierung“ des Kapitalismus.

Für die Arbeitslosen, die Opfer dieses Systems, gleicht Hartz IV einem institutionalisierten Spießrutenlaufen, bei dem die Fallmanager der „Jobcenter“ angehalten sind, mit einem Übermaß an Schikanen den ALG2-Beziehern das Leben zur Hölle zu machen und diese in jede noch so ausbeuterische Arbeit zu nötigen. Dies geschieht unter kalkuliertem Rechtsbruch der ohnehin drakonischen Arbeitsgesetze, wie die Klageflut gegen die Exzesse der deutschen Arbeitslosenverwaltung belegt. Allein am Berliner Sozialgericht hat sich die Zahl der Verfahren nach der Einführung von Hartz IV vervierfacht. Bei rund 70 Prozent der Rechtsstreitigkeiten geht es um Hartz IV, wobei die Erwerbslosen in 54 Prozent der Fälle diese für sich entscheiden können. Der Alltag eines Arbeitslosen ist folglich von einem permanenten Kampf mit diesem Apparat geprägt, der alle Möglichkeiten nutzt, um diesen etwa durch falsche Berechnungen der Unterkunftskosten, kurzfristige Vorladungen zum Rapport beim Fallmanager, oder durch das Verdonnern zu „Weiterbildungskursen“ und stupiden „Beschäftigungsgelegenheiten“ zu schikanieren.

Dieser Windmühlenkampf des zielgerichtet in die Vereinzelung getriebenen Arbeitslosen mit den übermächtigen Institutionen der kapitalistischen Menschenverwaltung ist auf psychischen Verschleiß, auf das Brechen des Widerstandswillens der Betroffenen ausgerichtet. Das antisoziale Konstrukt der „Bedarfsgemeinschaft“ wurde eigens mit der Intention eingeführt, die soziale Atomisierung der „Ich-AGs“ zu forcieren, die künftig darauf achten sollen, sich bloß mit niemandem in einer „Bedarfsgemeinschaft“ einzulassen, der zu einer finanziellen Belastung werden könnte. Die Agenda 2010 hat erst dann voll „gegriffen“, wenn deren Opfer sich tatsächlich als Ich-AGs imaginieren, die selbst die übelste Ausbeutung und Zwangsarbeit als eine „Chance“ zur Steigerung der eigenen Markfähigkeit betrachten. Jeder soll sich laut der Gehirnwäsche der Agenda-Ideologie als sein „eigener Chef“ fühlen – in Wirklichkeit wird jeder zum stromlinienförmigen Untertanen dressiert.

Zudem etablierte sich mit der Agenda 2010 die Hetze gegen die Krisenopfer, die in einer beispiellosen Diffamierungskampagne zu Tätern, den Verursachern der Krise der kapitalistischen Arbeitsgesellschaft aufgebaut wurden. Bei dieser Stimmungsmache überboten sich sozialdemokratische sowie grüne Politiker und Massenmedien mit immer neuen Geschichten über angebliche „Sozialschmarotzer“, die der Allgemeinheit nur faul auf der Tasche liegen würden (Bild, Deutschlands frechster Arbeitsloser und „Volkes Stimme“). Die Arbeitslosen wurden als „faul“ oder „arbeitsscheu“ charakterisiert, die Ursachen der Arbeitslosigkeit in der BRD wurden in Rahmen dieser Ideologie personifiziert. Die Erwerbslosen trügen die Schuld an der Arbeitslosigkeit, so der implizite Subtext der damaligen Kampagne, die auf die grundlegende Entsolidarisierung der Lohnabhängigen abzielte. Erinnert sei in diesem Zusammenhang nur an die Bild-Kreation Florida-Rolf oder an Schröders Spruch: „Es gibt kein Recht auf Faulheit.“
Personalisierung der Krisenursachen

Die mit der Agenda 2010 eingeführte Scharfmacherei gegen die Opfer der kapitalistischen Systemkrise, die in einer ideologischen Personifizierung der Krisenursachen zu deren Verursachern halluziniert werden, ist seitdem zu einem beständigen Moment des öffentlichen Diskurses in der Bundesrepublik geworden. Die berüchtigte Sarrazin-Debatte bei der das Feindbild des „Sozialschmarotzers“ mit xenophoben und antiislamischen Ressentiments angereichert wurde, wäre ohne die demagogische „Vorarbeit“ im Rahmen der Agenda 2010 genauso wenig möglich gewesen, wie die jüngsten Hetztiraden gegen die „korrupten Griechen“ oder gegen „faule Südeuropäer“ im Gefolge der Eurokrise (Krisenmythos Griechenland). In all diesen Fällen wird von den Einpeitschern in Politik und Meiden an die niedersten Instinkte und Ängste derjenigen Bevölkerungsgruppen appelliert, die noch nicht unter die Räder der amoklaufenden kapitalistischen Wirtschaftsmaschine geraten sind. Es war vor allem die von Abstiegsängsten geplagte Mittelklasse, die nur allzu bereitwillig diese Ideologie verinnerlichte und alle Maßnahmen akzeptiere, mit denen die Entrechtung, soziale Isolierung und Schikanierung der zu Tätern getempelten Krisenopfer umgesetzt wurde.

Der blindwütige Reflex dieser wutbebenden und angstschwitzenden „Mitte“ besteht schlicht in dem Bedürfnis, sich von den „Krisenverlierern“ möglichst stark abzugrenzen – und gerade dadurch konnten diese Lohnabhängigen dazu gebracht werden, gegen ihre ureigensten Interessen zu handeln. Den selbstverständlich besteht der einzige elementare Unterschied zwischen dem im Standesdünkel verhafteten Mittelschichtsangehörigen und dem von ihm verabscheuten Hartz-IV-Empfänger nur darin, dass der Erstere noch in der Lage ist, seine Arbeitskraft zu verkaufen. Sie beide können nichts anderes als ihre Arbeitsfähigkeit zu Markte tragen. Folglich führte die Durchsetzung von Hartz IV, die Entrechtung und Verelendung der Arbeitslosen, auch zur Verschärfung der Arbeitsbedingungen vieler Lohnabhängigen, die zuvor die Agenda-Politik begrüßten.

Autoritärer Kreislauf durch Identifikation mit der Ökonomie

Die Angst vor dem blanken Elend und vor der totalen Entwürdigung in den Fängen der Arbeitslosenverwertung, die man zuvor begeistert gegenüber angeblichen „Sozialschmarotzern“ bejahte, kroch langsam in die Büros und Arbeitsstellen der Angestellten. Sie lähmte den Widerstandswillen nicht nur gegen den im Gefolge der Agenda 2010 einsetzenden Lohnkahlschlag, sondern auch gegen die zunehmende Intensivierung der Ausbeutung, gegen die immer weiter vorangetriebene Verschärfung des Arbeitsregimes in der BRD. Das abschreckende Beispiel der Entrechtung ihrer arbeitslosen Klassengenossen führte zu einer Entmachtung der noch „in Arbeit“ befindlichen Lohnabhängigen, die so ziemlich alles mit sich machen ließen, um bloß nicht „abzustürzen“. Der Sadismus vieler Angestellter und Mittelschichstangehörigen, der die hohen Zustimmungswerte zu vielen Repressionsmaßnahmen gegen die arbeitslosen „Schnorrer“ ermöglichte, bekam so eine masochistische Komponente.

Inzwischen werden die Lohnabhängigen in Deutschland buchstäblich in den Wahnsinn gehetzt, wie die extreme Zunahme von berufsbedingten psychischen Erkrankungen offenbart: Um 120 Prozent sei die Zahl der psychischen Erkrankungen unter Deutschlands „Arbeitnehmern“ seit 1994 angestiegen, meldete etwa das Wissenschaftliche Institut der AOK Mitte August (Die kränkelnde Arbeitsgesellschaft). Die größten Steigerungsraten wurden dabei beim Burnout, dem „arbeitsassoziierten Erschöpfungszustand“, konstatiert: Allein in den vergangenen sieben Jahren sind die auf diese ausbeutungsbedingte Erkrankung zurückgeführten Krankheitstage um das Elffache (auf 2,7 Millionen Fehltage) explodiert.

Diese irrsinnigen Tendenzen zur Arbeitshetze und Arbeitsverdichtung haben bekanntlich keine beständige Oppositionsbewegung entfacht, sie tragen vielmehr zur Verfestigung eines „autoritären Kreislaufs“ bei all jenen Lohnabhängigen, die sich eine Alternative zur kapitalistischen Dauerkrise nicht vorstellen können. Der Sozialpsychologe Oliver Decker hat diese Ökonomisierung autoritärer und rechter Ideologien, die von der Agenda 2010 befeuert wurde, folgendermaßen auf den Punkt gebracht:

„Die ständige Orientierung auf wirtschaftliche Ziele – präziser: die Forderung nach Unterwerfung unter ihre Prämissen – verstärkt einen autoritären Kreislauf. Sie führt zu einer Identifikation mit der Ökonomie, wobei die Verzichtsforderungen zu ihren Gunsten in jene autoritäre Aggression münden, die sich gegen Schwächere Bahn bricht.“

Je stärker der Druck auf den autoritär fixierten Angestellten lastet, desto größer sein Bedürfnis, schwächere Menschen genauso ausgepresst und ausgebeutet zu sehen, wie er es selbst wird. Dieser „autoritäre Kreislauf“ bildet auch den Morast, der Erniedrigungsshows wie dem „Dschungelcamp“ ihre albtraumhaft hohen TV-Einschaltquoten ermöglicht (Bloch vs. Dschungelcamp). Der kausale Zusammenhang zwischen Verelendung und Entrechnung der Arbeitslosen und der Verschärfung der eigenen Arbeitsbedingungen wird hierbei in ausgeblendet und weicht irrationalen Reflexen von Hass und Sadismus, die den Boden für neofaschistische Krisenideologien bereiten.

Ein ähnlich gearteter kausaler Zusammenhang besteht auch zwischen der Intensivierung der Ausbeutung der „Ware Arbeitskraft“ in der Bundesrepublik einerseits, sowie der Ausbildung der europäischen Schuldenberge andrerseits. Bevor die Agenda 2010 in Gestalt des deutschen Spardiktats zu einem europaweiten Exportschlager werden konnte, war sie die Grundlage der erfolgreichen Exportoffensiven der deutschen Industrie in der Eurozone. Dass real rückläufige Lohnniveau in Deutschland ging ja einher mit einer Steigerung der Produktivität der hoch entwickelten deutschen Industrie. Hieraus ergab sich eine für die Industrie sehr vorteilhafte Entwicklung der Lohnstückkosten (des Anteils der Löhne an den Kosten einer Ware) in Deutschland, die weit unter dem EU-Durchschnitt blieben.

Wie aus der obigen Grafik ersichtlich wird, die die Entwicklung der Lohnstückkosten zwischen 2000 und 2011 darstellt, weist Deutschland in dieser Kategorie den mit Abstand niedrigsten Anstieg auf, der selbstverständlich einen entscheidenden Faktor bei der Erringung der deutschen „Exportweltmeisterschaften“ darstellte.

Mit der Euroeinführung und der damit einhergehenden Durchsetzung der Agenda 2010 explodierten folglich die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse gegenüber der Eurozone, die sich inzwischen auf den gigantischen Betrag von rund 700 Milliarden Euro summieren. Die Lohnabhängigen in der Bundesrepublik mussten sich also die Exporterfolge der deutschen Wirtschaft durch beständiges „Gürtel enger schnallen“ vom Munde absparen. In Südeuropa – das aufgrund des Euro nicht mehr mit Währungsabwertungen auf die Exportoffensiven der deutschen Industrie reagieren konnte – führten die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse zur Ausbildung von Defiziten, von Schuldenbergen in eben demselben Ausmaß. Die Mathematik hat es nun mal so eingerichtet, dass der Überschuss des Einen zwangsläufig das Defizit des Anderen darstellt, auch wenn diese Tatsache zu den größten Tabus der deutschen Krisenideologie gehört. Die folgende Grafik visualisiert diese Explosion der Leistungsbilanzüberschüsse der deutschen Exportindustrie gegenüber den Ländern Eurozone, die im Gefolge von Euro-Einführung und Agenda 2010 einsetzte.

Obwohl die Folgen der Agenda 2010 (Lohnkahlschlag, Prekarisierung, Arbeitsverdichtung) die Herausbildung dieser „europäischen Ungleichgewichte“ entscheidend verstärkten, war es aufgrund der inzwischen eingeübten ideologischen Reflexe den deutschen Meinungsmachern ein Leichtes, nach den Hartz-IV-Empfängern nun auch die europäischen Krisenopfer zu Krisenverursachern zu stempeln. Die unter dem drakonischen deutschen Arbeitsregime stöhnenden Lohnabhängigen empören sich nun über die als faul und korrupt imaginierten Südeuropäer, für deren angebliche Schuldenexzesse nun die Zeche zu zahlen sei – der kausale Zusammenhang zwischen Lohnkahlschlag wie Arbeitshetze in Deutschland und der Verschuldung in Südeuropa blieb ausgeblendet.

Ein Blick gen Süden genügt, um der Zukunft des Arbeitslebens in der Bundesrepublik ansichtig zu werden

Die in Deutschland dominierende Tendenz, die Krisenursachen im Ausland zu verorten, wird durch die zeitliche Übereinstimmung von Euro-Beitritt und Agenda 2010 befördert. Diese Krisenideologie – die nur bei verbissener Ignorierung der Folgen der deutschen Handelsüberschüsse aufrechterhalten werden kann – trägt aber auch ein Körnchen verzerrter Wahrheit in sich: Von den Handelsüberschüssen und der korrespondierenden Schuldenbildung in der Eurozone profitierte die deutsche Exportindustrie, während die Lohnabhängigen mit dem Folterinstrumentarium der Agenda 2010 traktiert wurden. Für die finanziellen Folgen der Eurokrise sollen aber die Steuerzahler aufkommen. Dem „deutschen Michel“, der sich mit „seiner“ Deutschland AG identifiziert, scheint es tatsächlich so, als ob er nun trotz immer größerer Arbeitsanstrengungen die Zeche zu zahlen hat. Dass die Profiteure der europäischen Schuldenkrise nicht in Südeuropa, sondern in denselben Vorstandsetagen seiner „Deutschland AG“ zu finden sind, in denen die Folterinstrumente der Agenda 2010 ausgebrütet wurden, ist im Rahmen der deutschen Krisenideologie schlicht undenkbar.

Für die deutschen Funktionseliten aus Wirtschaft und Politik hat sich die Agenda 2010 somit auch auf europäischer Ebene zu einem unglaublichen Erfolg entwickelt: Mittels der rabiaten Absenkung der Kosten der „Ware Arbeitskraft“ konnte eine nahezu totale ökonomische Dominanz der Bundesrepublik in der Eurozone errungen und ein großer Teil der europäischen Konkurrenz platt gemacht werden. Zugleich forcierte die korrespondierende Ideologie des totalitären Ökonomismus die Entsolidarisierung der Lohnabhängigen innerhalb Deutschlands wie auch auf europäischer Ebene.

Der fast schon sakrale Charakter, den die Agenda-Ideologie selbst übelster Ausbeutung verliehen hat („Hauptsache Arbeit“), deutet selbstverständlich auf die wahren Krisenursachen hin. Der Veitstanz um die Lohnarbeit bildet eine ideologische Reaktion auf das sich abzeichnende Ende der Lohnarbeit, die einer an ihrer Hyperproduktivität erstickenden kapitalistischen Arbeitsgesellschaft auszugehen droht. Immer mehr Menschen fallen aus dem Prozess der Verwertung von Arbeit heraus, sie werden „überflüssig“ – während der Druck auf die noch in Arbeit befindlichen Lohnabhängigen immer weiter wächst. Hieraus ergibt sich auch die derzeitige sozioökonomische Spaltung der Eurozone. Deutschland kann als eine Burnout-Republik bezeichnet werden, während in Südeuropa zweistellige Arbeitslosenraten von bis zu 30 Prozent erreicht werden. Nur vermittels der deutschen Leistungsbilanzüberschüsse kann hierzulande noch die Illusion einer intakten Arbeitsgesellschaft aufrechterhalten werden. Mit den Leistungsbilanzüberschüssen exportierte Deutschland auch Arbeitslosigkeit. Diese spezifisch europäischen Disparitäten bei der Entfaltung der Arbeitslosigkeit, die in der besagten Krise der Arbeitsgesellschaft wie in den Ungleichgewichten der Eurozone gründen, bringt die folgende Grafik zur Geltung:

Wohin nun die Reise für alle Europäer geht, die nichts anderes als ihre Arbeitskraft auf den krisenbedingt kollabierenden Märkten feilbieten können, illustriert beispielsweise der Skandal um die menschenunwürdige Kasernierung spanischer Saisonarbeiter durch den Versandhändler Amazon (Amazon oder die moderne Ausbeutung in Zeiten der Krise). Die neofeudalen Tendenzen, bei denen Arbeitslose buchstäblich zum Eigentum der Apparate der kapitalistischen Krisenverwaltung deklariert werden, kamen vergangene Weihnacht auch in Bendorf in Rheinland-Pfalz zum Vorschein (Arbeitslosen-Tombola), wo Arbeitslose bei einer Tombola an interessierte Unternehmer zum kostenlosen Arbeitseinsatz verschenkt wurden. Anstatt die schrumpfende gesellschaftlich notwendige Arbeit auf alle Gesellschaftsmitglieder zu verteilen, reagiert der Kapitalismus auf diese Krise mit Marginalisierung und Zwangsarbeit einerseits und mit entgrenzter Arbeitshetze andrerseits.

Die Agenda 2010 stellt somit nur einen Markstein dar auf dem Weg des Kapitalismus zurück in seine eigene finstere Vergangenheit aus Zwangsarbeit, Arbeitshaus und existenziellem Massenelend, den das System in Reaktion auf diese fundamentale Krise eingeschlagen hat. Mit jedem weiteren Krisenschub wird der Druck zur Durchsetzung weiterer „Reformen“ anwachsen.

Der Ruf nach einer Agenda 2020 wird inzwischen auch den Hohepriestern der Wirtschaftsstandortreligion, von den üblichen „Top-Ökonomen“ erhoben, die gerne eine „Rente mit 70“ und die „prozentuale Beteiligung der Versicherten an den Gesundheitskosten“ realisieren möchten. Wichtige Vorarbeiten bei der weiteren Entrechtung der Lohnabhängigen werden derzeit im krisengeplagten Südeuropa geleistet. Genau so, wie die Hetze gegen Arbeitslose letztendlich auf die Lohnabhängigen in Gestalt von Lohnkahlschlag und Arbeitsverdichtung zurückschlug, werden die derzeit in Südeuropa durchgesetzten Grausamkeiten in ein paar Jahren auch in der Bundesrepublik Einzug halten.

Ein Blick gen Süden, etwa nach Griechenland, genügt somit, um der Zukunft des Arbeitslebens in der Bundesrepublik ansichtig zu werden. Die in Hellas verhasste „Troika“ aus IWF, EZB und EU-Kommission forderte etwa Ende 2012 die Einführung einer Sechs-Tage-Woche mit 13-Stunden-Tagen, die Griechenlands Lohnabhängige durchzustehen hätten, „wenn der Betrieb dies als nötig einstuft,“ wie die Welt meldete. Es bedarf nur eines abermaligen Krisenschubs, um diese bislang unerfüllten Forderungen Realität werden zu lassen. „Der Blick in das 18. Jahrhundert ist der Blick in die Hölle unserer eigenen Zukunft“, prognostizierte der Krisentheoretiker Robert Kurz in seinem „Schwarzbuch Kapitalismus“ schon Ende des 20. Jahrhunderts.

Link zu Grafiken: http://www.heise.de/tp/artikel/38/38753/1.html

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