Gedenkverbot in Tallinn

„Junge Welt“, 03.05.2007
Streit über sowjetisches Ehrenmal dauert an: Estland untersagt Feiern zum Tag des Sieges über den Faschismus. EU fordert Rußland auf, gegen Botschaftsdemonstranten vorzugehen

Die estnische Obrigkeit demonstriert zur Zeit der russischen Minderheit des Landes das europäische Verständnis der Begriffe Menschenrechte, Zivilgesellschaft und Demokratie. Bis zum 11. Mai sind in der gesamten baltischen Republik öffentliche Kundgebungen und Demonstrationen verboten. Zum ersten Mal seit der Befreiung des Landes aus dem Würgegriff des deutschen Faschismus und seiner baltischen Kollaborateure wird es mithin nicht möglich sein, den 9. Mai als Tag des Sieges in Estland öffentlich zu begehen. Neben dem Verbot aller öffentlichen Feiern zum Sieg über den Faschismus wird auch die ehemals hochgelobte Reisefreiheit für alle jugendlichen russischen Bürger ausgesetzt, die in Verdacht stehen, einer »kremlnahen« Organisation anzugehören – sie dürfen bis auf weiteres nicht nach Estland einreisen.

Inzwischen wurden erste Details bekannt über den Umgang der estnischen Sicherheitskräfte mit den über 1100 festgenommenen Demonstranten, die gegen den Abriß des sowjetischen Ehrenmals am Freitag im Zentrum Tallinns protestiert hatten. Gegenüber der Nachrichtenagentur Regnum erklärten Freigelassene, stundenlang mit auf den Rücken gefesselten Händen in Frachtdepots des Tallinner Hafens festgehalten worden zu sein, ohne Nahrung oder Wasser zu erhalten und eine Toilette aufsuchen zu dürfen. »Jeder, der aufstand oder es wagte, sich zu beschweren, wurde getreten und mit Schlagstöcken traktiert«, zitierte Regnum einen Demonstranten.

Eine hochrangige Delegation der russischen Duma, die zu Wochenbeginn in Tallinn war, bestätigte am 1. Mai gegenüber der Nachrichtenagentur Itar-Tass die Berichte über Mißhandlungen und sprach von »umfangreichen Verstößen gegen die Menschenrechte«. Der Vizevorsitzende des Duma-Ausschusses für internationale Angelegenheiten, Nikolai Kowaljow, bestätigte, daß sich unter den im Hafen festgehaltenen und teilweise mißhandelten Demonstranten viele Minderjährige und auch ältere Menschen im Rentenalter befunden hätten. Er rief die Führung in Tallinn zum Rücktritt auf. »Die estnische Regierung hat diese Krise provoziert und ist nicht mit den folgenden Ausschreitungen fertiggeworden«, erklärte Kowaljow. Rußland verlangt nach wie vor, daß das sowjetische Ehrenmal an seinem ursprünglichen Platz im Stadtzentrum wieder aufgestellt wird.

Die estnische Regierung geht inzwischen in die Offensive. Die Lageeinschätzung des Duma-Delegationsleiters Kowaljow bezeichnete ein Sprecher des Außenministeriums als »Propaganda«, die russischen Medien wurden zudem von estnischen Regierungsstellen bezichtigt, »Lügen zu verbreiten«. Das Außenamt legte überdies offiziellen Protest gegen die anhaltenden Demonstrationen russischer Jugendorganisationen vor der Botschaft Estlands in Moskau ein, die als »Psychoterror« bezeichnet wurden. Die estnisch Regierung rief die Europäische Union auf, mit aller Macht in Moskau zu intervenieren. Am Mittwoch schaltete sich die EU-Kommission dementsprechend ein: »Wir teilen die Beunruhigung über die zunehmenden Spannungen um die estnische Botschaft in Moskau und fordern entschlossen von den russischen Behörden, den Verpflichtungen aus der Wiener Konvention über diplomatische Beziehungen zu folgen«, erklärte eine Sprecherin in Brüssel. Über das rücksichtslose Vorgehen der estnischen Sicherheitskräfte bei der Niederschlagung der tagelangen Proteste verlor die um »diplomatische Konventionen« besorgte EU-Kommission bis dato kein Wort.

Inzwischen haben sich Finnland und Polen eindeutig mit dem estnischen Geschichtsrevisionismus solidarisiert. Der polnische Kulturminister Kazimierz Ujazdowski erklärte sogar, daß seine Regierung bis zum 15. Mai ein Gesetz verabschieden werde, mit dem es leichter fallen werde, »Symbole der kommunistischen Diktatur« aus Polens öffentlichem Raum zu verbannen. Hierzu zählte Ujazdowski auch die Ehrenmale der sowjetischen Soldaten, die Polen aus der brutalen Besatzung durch Nazideutschland befreiten.

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