Claims schon abgesteckt

„Junge Welt“, 05.01.2007
Lange vor EU-Beitritt ging das westeuropäische Kapital auf Expansionskurs in Rumänien und Bulgarien. Deutsche Konzerne sind vorn dabei

In der Nacht zum Montag wurde in Bukarest und Sofia besonders laut gejubelt. Standen doch die Neujahrsfeiern ganz im Zeichen des Beitritts beider Länder zur Europäischen Union. Zu diesem Zeitpunkt hatten Westeuropas Konzerne längst ihre Interessensphären auf den neuen Binnenmärkten abgesteckt. Vorn mit dabei sind deutsche Unternehmen.
Im ersten Halbjahr 2006 wuchsen die BRD-Exporte nach Rumänien um 21 Prozent auf drei Milliarden Euro. Die Ausfuhren nach Bulgarien erreichten im selben Zeitraum bei einer Steigerung von zehn Prozent ein Volumen von knapp einer Milliarde Euro. Beide südosteuropäischen Länder weisen ein Handelsdefizit gegenüber Deutschland auf: Im Falle Rumäniens beträgt es 1,1 Milliarden Euro. Bulgarien häufte ein Minus von etwa 300 Millionen Euro im ersten Halbjahr 2006 an.
Goldgräberstimmung
Die BRD ist nach Italien der zweitwichtigste Handelspartner Rumäniens. Inzwischen werden 15 Prozent des rumänischen Außenhandels mit deutschen Unternehmen abgewickelt. Bei den Direktinvestitionen in Rumänien nimmt Deutschland hinter den Niederlanden, Österreich und Frankreich offiziell mit zehn Prozent des seit 1991 investierten Kapitals zwar nur den vierten Platz ein. Allerdings investierten etliche deutsche Konzerne über ausländische Tochterunternehmen. Das verzerrt die Statistik. Mitte 2006 waren über 13000 Unternehmen mit deutscher Beteiligung in Rumänien tätig. Damit kommt Deutschland auch in dieser Kategorie hinter Italien auf den zweiten Platz.
Eine wahre Goldgräberstimmung brach insbesondere unter dem deutschen Handelskapital aus. Auf eine Million Rumänen kommen bisher nur zehn Supermärkte, in Slowenien, das kürzlich der Eurozone beitrat, sind es schon 250. Nun befinden sich die Metro-Gruppe, Tengelmann und andere auf einem wilden Expansionskurs. Zwischen Walachei und den Karpaten soll die dortige Bevölkerung mit demselben Plastikfraß beglückt werden, den zu konsumieren bereits Deutschland und halb Osteuropa genötigt wird.
Schon früh rüsteten deutsche Politik und Unternehmensverbände den entsprechenden organisatorischen Rahmen auf, der ein günstiges Investitionsklima sichern sollte. Seit September 2002 ist die Deutsch-Rumänische Handelskammer in Bukarest aktiv. Deutsche Wirtschaftsklubs in mehreren Regionen des Landes sollen helfen, den Marktzugang und die Investitionstätigkeit deutscher Unternehmen zu befördern. Ein Deutsch-Rumänischer Kooperationsrat soll laut Auswärtigem Amt als offizielles Forum für den »Dialog in Wirtschaftsfragen« beider Länder dienen.
Selbstverständlich hat auch Bulgarien seine Deutsche Handelskammer. Deren Hauptgeschäftsführer Mitko Wassiljew gibt die Zahl der am Handel mit Bulgarien beteiligten BRD-Unternehmen mit über 4500 an. Die deutschen Konzerne konnten seit 2004 zweistellige Zuwachsraten bei Export in das 7,7 Millionen Einwohner zählende Land verbuchen. Wassiljew geht auch davon aus, daß dieser Trend in den nächsten Jahren anhält. mehr als 1200 BRD-Unternehmen haben bislang über eine Milliarde Euro in Bulgarien investiert. Führend hierbei E.on, Metro, die WAZ-Gruppe, die HIT-Märkte, Kaufland, die Allianz und Siemens. In Bulgarien belegten die Importe aus der BRD mit etwa 15 Prozent des Gesamteinfuhrvolumens lange den ersten Platz. Erst 2005 wurden die BRD als wichtigstes Importland durch Rußland verdrängt – hauptsächlich infolge der hohen Energiepreise. Dennoch stellt die EU-Aufnahme beider Staaten die Fortsetzung einer Erfolgsstory dar. Seit dem Beitritt von zehn überwiegend osteuropäischen Ländern im Mai 2004 sind die deutschen Exporte in diese Staaten um 80 Prozent gestiegen.
Armutslöhne
In Bulgarien und Rumänien konnten niedrigste Unternehmenssteuersätze durchgesetzt und die Löhne auf einem rekordverdächtig niedrigen Niveau gehalten werden. In Rumänien hofft man, ausländisches Kapital mit einer sogenannten Flattax, einem einheitlichen Steuersatz von 16 Prozent, zu ködern. Bulgariens sozialistische Regierung senkte die Körperschaftsteuer des Landes sogar auf magere zehn Prozent. Der Durchschnittslohn in der privaten Wirtschaft beträgt dort hingegen mit knapp 200 Euro nur ein Drittel dessen, was z. B. in Tschechien üblich ist. Das Lohnniveau Rumäniens ist nur marginal höher. Angesichts solcher Löhne verwundert es kaum, daß die Armutsrate in beiden Länder die Arbeitslosenquote um ein vielfaches übertrifft. Seriösen Schätzungen zufolge soll die Mehrheit der Bevölkerung Bulgariens in Armut leben, in Rumänien sollen 25 Prozent der 22 Millionen Rumänen unterhalb der Armutsgrenze vegetieren.
Angesichts solcher Steuersätze und Löhne verwundert der Anstieg ausländischer Direktinvestitionen kaum. In Bulgarien sollen 2006 knapp über drei Milliarden Euro investiert worden sein, in Rumänien nahezu acht Milliarden. Oftmals sind die investierenden Konzerne auf die Auslagerung kostenintensiver Arbeitschritte bedacht. Oder sie forcieren die Produktion besonders billiger Produkte für die rapide an Kaufkraft einbüßende Bevölkerung »Kerneuropas«. Ein Paradebeispiel dafür ist der von Renault übernommene, rumänische Autohersteller Dacia. Der bietet inzwischen Neuwagen ab 7200 Euro auf dem EU-Markt an.

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