Tränengas im Sejm

Publiziert am 28.07.2005 in „junge welt“

Arbeiterproteste gegen Rentenpolitik vor dem polnischen Parlament. Sieg für Kumpel bei der »Schlacht um Warschau« gilt als wahrscheinlich

Dutzende von teilweise schwer verletzten Polizisten und Demonstranten, ein verwüstetes Parlamentsviertel und unter den Folgen eines Tränengaseinsatzes leidende Politiker – das ist die Bilanz eines Protestzuges von Bergarbeitern am Dienstag in Warschau, an dem 10 000 Kumpel aus dem Kohlerevier Schlesiens teilnahmen.

Ausgelöst wurde diese »Schlacht um Warschau«, wie sie polnische Medien am Mittwoch titulierten, durch Pläne der scheidenden sozialdemokratischen Regierung, das Rentenalter für die im Bergbau Beschäftigten drastisch zu erhöhen. Bisher konnten Bergarbeiter nach 25 Jahren Arbeit unter Tage in eine Frührente gehen, unabhängig von ihrem Alter. Die von der Regierung eingebrachte Neuregelung des Rentenrechts sah hingegen vor, die Kumpel bis zum 65. Lebensjahr unter Tage schuften zu lassen. Diese Änderung sollte am 1. Januar 2007 in Kraft treten, doch danach sieht es nicht mehr aus.

Gegen die geplante Verlängerung der Lebensarbeitszeit organisierten die Bergarbeitergewerkschaften ein »Bürgerprojekt«, eine Art Bürgerbegehren, welches über 150000 Menschen unterschrieben, und das dem Sejm (dem polnischen Parlament) vor der Sommerpause zur Beratung vorgelegt werden sollte. Das Bürgerprojekt sieht die Beibehaltung der derzeitigen Regelung vor. Anfangs hatte sich Sejmmarschall (Parlamentspräsident) Wlodzimierz Cimoszewicz noch gegen die Forderungen der Bergarbeiter gesperrt, das Projekt dem Sejm vorzulegen. Doch der Demonstrationstermin war von den Gewerkschaften mit Bedacht in die Phase des Vorwahlkampfs gelegt worden. Im Spätsommer und Frühherbst werden in Polen Parlaments- und Präsidentschaftswahlen stattfinden.

Ab Dienstag mittag standen sich dann Tausende von Bergarbeitern und Spezialkräfte der Polizei vor dem Parlament gegenüber, während drinnen Gewerkschaftsvertreter mit Cimoszewicz über die Vorlage des Bürgerprojekts verhandelten. Die anfänglich gelöste Stimmung kippte schnell, als Gerüchte über das Scheitern der Gespräche aufkamen. Arbeiter gingen mit Stöcken und Steinen gegen die Polizeikräfte vor, um in das Gebäude einzudringen. Die Polizei antwortete mit Tränengas und Wasserwerfern. Durch die räumliche Nähe zum Kampfgeschehen wurden auch Politiker und Parlamentsmitarbeiter von Tränengasschwaden in Mitleidenschaft gezogen. Die Lage beruhigte sich erst, als Cimoszewicz öffentlich bekanntgab, das Bürgerprojekt dem Sejm zur Beratung vorzulegen.

Eine Annahme des Bürgerprojekts in der gestrigen Sejmsitzung galt als sicher, da es sich keine der relevanten politischen Kräfte mit der starken Bergarbeiterlobby vor den Wahlen verscherzen will.

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