Angriff der Berufsvertriebenen

„Junge Welt“ vom 18.12.06
Empörte Reaktionen auf Vorstoß der Preußischen Treuhand gegen Polen

Die deutsche »Vertriebenenorganisation« Preußische Treuhand gab am vergangenen Freitag bekannt, Entschädigungsklagen gegen die Republik Polen beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) eingereicht zu haben. Gegenüber der Nachrichtenagentur AP erklärte deren stellvertretender Geschäftsführer Gerwald Stanko, daß die seine Institution zunächst 22 Einzelbeschwerden eingereicht habe. Insgesamt sollen es aber laut Stanko 40 bis 50 werden. Die von der Bundesregierung offiziell nicht unterstützte »Vertriebenenorganisation« wirft Polen die Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention vor. Die in der Preußischen Treuhand organisierten »Vertriebenen« wollen auf gerichtlichem Wege die Rückgabe von Eigentum ihrer Vorfahren erreichen, das im Ausgang des Zweiten Weltkrieges im Zuge der Umsiedlung der deutschen Bevölkerung Westpolens enteignet worden war.
Die Preußische Treuhand hofft, daß der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte im Zuge der Verfahren zunächst die »Vertreibungen« nach dem Zweiten Weltkrieg grundsätzlich als Unrecht bezeichnet. In ihrer Presseerklärung bezeichnen die preußischen Berufsvertriebenen die Enteignungen und Umsiedlungen nach 1945 als rassistisch motiviert und diskriminierend. Zudem habe laut der Preußischen Treuhand die »Vertreibung der deutschen Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg« in einer Art und Weise stattgefunden, die »einem Mord aus nationaler oder rassistischer Motivation«, oder gar einem »Verbrechen gegen die Menschlichkeit« gleichkomme.

Polnische Politiker reagierten auf diesen Vorstoß deutscher »Vertriebener« mit Empörung. Polens Präsident Lech Kaczynski erklärte während einer Visite in Brüssel, daß diese Entschädigungsklagen das Potential hätten, »einige sehr gefährliche Mechanismen auszulösen, die die Beziehungen zwischen europäischen Ländern zerstören könnten«. Als Bürgermeister Warschaus ließ Kaczynski 2003 die von deutschen Besatzern während des Zweiten Weltkrieges in der polnischen Hauptstadt verursachten Schäden schätzen. Die ermittelte Schadenssumme von 45 Milliarden Euro soll einer Resolution des polnischen Parlaments zufolge von der BRD als Kriegsreparation gefordert werden, wenn Deutsche Entschädigungsklagen gegen die Republik Polen einreichen. »Solche Prozesse haben einen ruinösen Einfluß auf die Beziehungen zwischen zwei europäischen Staaten«, erklärte Lech Kaczynski abschließend. Ähnlich äußerte sich das polnische Außenministerium, ein Ministeriumssprecher wies auf die »langfristigen, sehr negativen Folgen, sowohl für Polen, wie für die gesamte Region hin«, die mit den Klagen der Preußischen Treuhand einhergingen.

Vertreter der BRD beeilten sich ebenfalls, das vorgehen der Preußischen Treuhand zu kritisieren. Gesine Schwan, die Koordinatorin der Bundesregierung für das deutsch-polnische Verhältnis, gab gegenüber der Berliner Zeitung ihrer Hoffnung Ausdruck, »daß sich wie bisher alle politisch relevanten Kräfte bis hin zum Bund der Vertriebenen von dem Vorstoß distanzieren«. Der Vorsitzende der Gruppe der Vertriebenen in der CDU-Bundestagsfraktion, Jochen-Konrad Fromme, übte vor allem Kritik an den handwerklichen Fehlern der Preußischen Treuhand. Er sehe keinen Weg, wie die vermeintlichen Ansprüche der Kläger durchgesetzt werden könnten, so Fromme, der sich vor allem um den internationalen Ruf Deutschlands besorgt zeigte: »Ich lehne die Aktivitäten und den Stil dieser Institution vollständig ab, weil sie Deutschland erheblichen außenpolitischen Schaden zufügt.«

All diesen Lippenbekenntnissen parlamentarischer Hinterbänkler zum Trotz, einen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag zwischen Polen und Deutschland, der jegliche – auch private – Entschädigungsforderungen endgültig unmöglich machen würde, lehnte Deutschlands Kanzlerin Merkel bei einem Besuch des polnischen Premiers Jaroslaw Kaczynski Ende Oktober in Berlin ab. Die gegenwärtige große Koalition, die zur Zeit Entschädigungsforderungen ablehnt, will nachfolgenden Regierungsmannschaften offenbar alle Optionen offen halten.

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